U3-Betreuung1600 Kinder in der Region suchen einen Kita-Platz

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Köln – Aylin Ugurlu hat endgültig genug. Gerade sind fünf Absagen für einen U3-Betreuungsplatz für ihre zweijährige Tochter angekommen. Sie setzt sich an den Schreibtisch und verfasst einen Brief an die Nippeser Lokalpolitiker. Kurz nach der Geburt des Kindes habe sie angefangen, Kindergärten und Tagesmütter abzuklappern. Bis heute sei sie nie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden. Die Ämter seien keine Hilfe, das Online-Anmeldeportal „Little Bird“ eine Katastrophe. Das Einkommen ihres Mannes reiche nicht aus. Doch ohne einen Betreuungsplatz sei es ihr auch als Betriebswirtin unmöglich, eine Stelle zu finden. Sie schließt mit den Worten: „Ich bitte Sie nun innig, unserer Familie zu helfen. Meine Verzweiflung ist groß und jeder schiebt die Verantwortung jemandem anderen zu.“

Mit ihrem Schicksal steht Aylin Ugurlu nicht alleine. Die Situation ist teilweise dramatisch. Bundesweit klafft eine U3-Betreuungslücke von 300000 Plätzen, allein in NRW sind knapp 80000 Kinder unter drei Jahren ohne Betreuung, obwohl die Eltern eine Unterbringung brauchen. Vor allem in den Metropolen sind die Plätze rar, aber selbst in ländlichen Regionen gibt es lange Wartelisten.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat bei den Kommunen im Großraum Köln nachgefragt und eine umfassende Bedarfsanalyse erstellt. Demnach sind derzeit etwa 1600 Kinder unter drei Jahre von Leverkusen bis Euskirchen ohne einen Betreuungsplatz. Obwohl die Eltern sich auf eine Unterbringung verlassen haben. Die Versorgungsquote der Stadt Köln beträgt gerade mal 40 Prozent. Von den knapp 35000 Kindern unter drei Jahren benötigen derzeit etwa 16000 dringend ein Angebot. Die öffentlichen Träger aber haben nur Plätze für etwa 10000 Kinder. Die Stadt gibt zu, „dass die in den letzten Jahren neu in Betrieb genommenen Kindertagesstätten den Ausbaubedarf nicht decken können“. Die derzeit 6000 fehlenden Plätze können nur über Tagesmütter etwas abgefedert werden. Unterm Strich bleiben allein in Köln 1000 verzweifelte Familien wie die von Aylin Ugurlu übrig.

Es mangelt an Immobilien

Im August 2013 führte der Gesetzgeber bundesweit den Rechtsanspruch auf einen U3-Platz ein. Seither türmen sich in NRW die Probleme. Gerade den größeren Kommunen mangelt es an Immobilien. Erzieher klagen über schlechte Bezahlung und Überlastung. Eltern kritisieren den Betreuungsschlüssel. Tagesmütter sind wegen der nur sechsmonatigen Ausbildungsdauer oft eine ungeliebte Alternative. Gemäß einer Elternbefragung der Stadt zum Betreuungsbedarf von U3-Kindern wünschen sich knapp 90 Prozent der Eltern eine Kita-Unterbringung. Tagespflege wird als Notlösung betrachtet. Aylin Ugurlu sagt: „Man weiß nie, an wen man da gerät. Aber natürlich geht man dorthin, wenn es sonst nichts gibt.“

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat die Lage analysiert: „Die Einführung des Rechtsanspruchs war bereits 2007 politischer Konsens“, sagt IW-Familienexperte Wido Geis „Wir haben nun 2018 und die Lage ist noch immer unbefriedigend. Man hat die Kommunen vor eine gigantische Herausforderung gestellt und sie letztlich zu wenig unterstützt. Da kann man schon von Politikversagen sprechen.“

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Auf der Seite der Landesregierung liest sich das anders. „Nordrhein-Westfalen ist ein Land für Familien. Hier bekommen Eltern wichtige Unterstützung bei ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgabe. Dazu gehört, dass es ausreichend Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren gibt.“ Laut Familienministerium liegt die U3-Betreuungsquote bei 37,5 Prozent. Das IW kommt nach eigener Rechnung auf eine Quote von 26,3 Prozent, im bundesweiten Ranking ist NRW damit Schlusslicht. Von Schönrechnen will man in Düsseldorf nicht reden. Grund für die Differenz seien unterschiedliche Berechnungsgrundlagen.

„Bei der Frage nach dem Bedarf, befindet sich das Land im Blindflug“, sagt Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. „Es ist wichtig, dass nun endlich der konkrete Bedarf mit den Kommunen ermittelt wird.“ In der Tat kann das Ministerium auf Anfrage keine Auskunft über den Bedarf liefern. Allerdings sei man in intensiven Gesprächen mit den Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden.

In den Arbeitskreisen dürfte es auch darum gehen, wie man das Geld, das Bund und Land für den U3-Ausbau zur Verfügung gestellt haben, ausgeben soll. Laut Familienministerium hat das Land ein Budget von knapp 264 Millionen Euro, um die Betreuungssituation von Kindern unter sechs Jahren zu verbessern. Doch wer Geld haben will, muss sich beeilen. Projekte, die bezahlt werden sollen, müssen bis Ende 2019 umgesetzt worden sein. Auskunft darüber, wie viel Geld schon in Anspruch genommen worden ist, kann die Regierung mit Hinweis auf den „dynamischen Prozess“ nicht geben.

Nach Meinung von SPD-Politiker Maelzer ist der Topf noch gut gefüllt. „Von dem Geld wurde bislang nur ein Teil abgerufen. Es scheint so, als wisse die Landesregierung gar nicht genau, wo und wie sie das Geld ausgeben soll. Sie weiß auch nicht, ob die Summe zu gering oder sogar zu hoch ist.“

Neue Kitas nur am Stadtrand

Auch die Stadt Köln kann nicht konkret sagen, wie viel Geld sie bereits beantragt hat, verweist aber auf die Eröffnung von 19 Kitas bis Ende 2019. Die meisten Träger sind bundesweite Ketten wie Fröbel oder Step Kids. 13 davon liegen rechtsrheinisch, weit draußen unter anderem in Gremberghoven, Eil, Grengel, Vingst, Brück und Rath/Heumar. Auch linksrheinisch befinden sich die künftigen Einrichtungen an den Rändern. „Städte wie Köln haben gigantische Probleme, geeignete Grundstücke zu finden“, so Maelzer. Allerdings ist die Stadt Köln aus dem Immobilienerwerb für Kitas längst ausgestiegen und setzt auf private Investoren. In der Kölner Innenstadt ist sie damit mäßig erfolgreich: Von den 19 geplanten Kitas befindet sich nur eine im Zentrum: Am Gereonswall, 60 Plätze, davon 32 U3. Eröffnung voraussichtlich drittes Quartal 2018.

Zur Misere haben alle großen Parteien beigetragen. Bei der Einigung auf den Rechtsanspruch war Schwarz-Gelb unter Rüttgers in der Verantwortung. Bei der Einführung Rot-Grün unter Kraft. Seit 2017 wieder CDU und FDP. Die Grünen immerhin geben sich selbstkritisch: „Mit etwas mehr Weitsicht hätte man wissen können, dass mit dem Angebot die Nachfrage steigt. Da haben auch wir Fehler gemacht, als wir in der Regierungsverantwortung waren“, so Josefine Paul, familienpolitische Sprecherin.

Die Politikerin kritisiert vor allem das Finanzierungssystem der Kitas wie es derzeit im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) geregelt ist. Demnach werden pro Kitaplatz Kopfpauschalen bezahlt. Da die Kosten gestiegen, die Pauschalen aber kaum angepasst worden sind, leiden die Kitas nun an chronischer Unterfinanzierung. Um das System vor dem Kollaps zu bewahren, musste die Landesregierung 2017 einen Rettungsschirm mit einem Volumen von 500 Millionen Euro aufspannen. Die Parteien sind zwar einig, dass das Gesetz und auch das Finanzierungsmodell zügig reformiert werden müssen. Einen Vorschlag für eine Novelle bleibt Familienminister Joachim Stamp bislang aber schuldig.

Verheerendes Zeugnis

Die Geduld verwundert, denn wie die Behörde auf Anfrage mitteilt, könne man mit einer verlässlichen Finanzierung auch dazu beitragen, die Lücken beim Erziehernachwuchs zu schließen. Auf die politischen Entscheider sind die Erzieher schon lange nicht mehr gut zu sprechen. „Mit hohem Engagement versuchen Erzieherinnen und Erzieher die Versäumnisse der Politik aufzufangen. Es ist überfällig, angemessene Bedingungen zu schaffen“, sagt Stefan Behlau, Landesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung NRW (VBE). Die jüngste Studie des deutschen Kitaleitungskongresses stellt den Parteien ein verheerendes Zeugnis aus. Demnach fühlen sich nur zwei Prozent der Kitaleitungen von der Politik spürbar unterstützt. Behlau: „Ohne gerechten Lohn und angemessene Arbeitsbedingungen wird es auch keinen Nachwuchs geben.“

Vor kurzem erst hat die Leiterin einer Kita in Bergisch Gladbach einen Brandbrief an Ministerpräsident Laschet und die Fraktionsspitzen im Landtag geschrieben: Zu wenig und zu schlecht bezahltes Personal, seelisch wie körperlich unzumutbare Bedingungen.

Wegen des U3-Platzmangels hatte die Landesregierung eine Klagewelle befürchtet. Die aber ist ausgeblieben. Laut den Verwaltungsgerichten in Köln, Düsseldorf und Gelsenkirchen ist die Zahl der Klagen verschwindend gering. Etwa 15 pro Jahr in der Landeshauptstadt, noch weniger in Köln. Für das Ministerium ist das Ausweis der guten Arbeit bei den Jugendämtern. Aylin Ugurlu aber hat die Erfahrung gemacht, dass das Jugendamt mit der Information über den Rechtsweg zurückhaltend umgeht. Erst als das Arbeitsamt ihr die Leistungen kürzen wollte, habe sie der Arge-Betreuer auf den Rechtsanspruch aufmerksam gemacht. Dabei scheinen gerade die Eilverfahren Unmögliches möglich zu machen. In fast allen Fällen, berichten die Gerichtssprecher, hätten die Städte plötzlich Lösungen gefunden.

Aylin Ugurlu wartet weiter auf einen Platz. Um die Familie finanziell über Wasser zu halten, sortiert sie derweil Akten bei einem Gebäudeservice auf 200-Euro-Basis. Das Kind muss sie mitnehmen.

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