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Wut auf Putin, Chaos und PropagandaSelenskyjs „Spinnennetz“ versetzt Russland in den „Paranoia-Modus“

Lesezeit 5 Minuten
Kremlchef Wladimir Putin. In Russland wird nach dem ukrainischen Großangriff Kritik an den Sicherheitsdiensten laut. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin. In Russland wird nach dem ukrainischen Großangriff Kritik an den Sicherheitsdiensten laut. (Archivbild)

Der Kreml schweigt eisern zum ukrainischen Großangriff. Die Wirkung von „Operation Spinnennetz“ zeigt sich in Russland dennoch deutlich. 

Der Ukraine gelingt mit der „Operation Spinnennetz“ der wohl bisher größte militärische Coup seit Kriegsbeginn – und im sonst eher redseligen Moskau herrscht dröhnendes Schweigen. Einen Tag nach dem ukrainischen Großangriff auf russische Militärflugplätze, bei dem Russland Schäden in Milliardenhöhe erlitten haben soll, versucht Moskau den Eindruck zu vermitteln, als sei nichts Nennenswertes passiert.

Die ohnehin nur sehr spärlichen Berichte der Staatsmedien zum ukrainischen Drohnenangriff sind von den Startseiten der Webseiten mittlerweile verschwunden. Und auch Stellungnahmen des Kreml oder von hochrangigen russischen Politikern gibt es weiterhin nicht. Anders sieht es derweil in den Telegram-Kanälen der russischen Kriegsblogger aus – dort war schnell von „Russlands Pearl Harbor“ die Rede, auch am Montag ist die Stimmung dort alles andere als positiv. 

Putins schrillste Propagandisten schweigen zum Großangriff

Besonders auffällig ist jedoch das Schweigen derjenigen, die sonst stets die schrillsten Worte gefunden haben: Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der noch am Wochenende den deutschen Außenminister Johann Wadephul (CDU) als „Ghul“ verhöhnte und der immer wieder mit Atomschlägen gegen den Westen gedroht hatte, äußerte sich bisher weder bei Telegram noch auf der Plattform X.

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Auch bei Außenamtssprecherin Maria Sacharowa, ebenfalls für radikale Töne bekannt, herrscht Schweigen zu „Operation Spinnennetz“. RT-Chefin Margarita Simonjan äußerte sich ebenfalls nicht zu der für Russland peinlichen Attacke.

Russische Propaganda fokussiert sich auf Friedensverhandlungen

„Ich denke, dass die westlichen Medien bald anfangen werden zu schreiben, dass wir unsere eigenen Züge in die Luft gesprengt hätten, offenbar um die Schuld der Ukraine in die Schuhe zu schieben“, verkündete Simonjan jedoch mit Blick auf die Zugunfälle, die es in Russland in der Nacht auf Sonntag gegeben hatte. Moskau hatte der Ukraine bereits kurz nach den Entgleisungen zweier Züge Sabotageakte vorgeworfen, Belege legte Moskau dafür bisher nicht vor. 

In den russischen Talkshows widmet man sich derzeit ebenfalls lieber den anstehenden Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul – und der Frage, wie man US-Präsident Donald Trump und Europa entzweien könnte.

Russisches Staats-TV: „Stimmt ihr mir zu, dass wir sie zerstören sollten?“

TV-Moderator Wladimir Solowjow hat dafür konkrete Vorstellungen und diskutierte mit seinen Studiogästen am Wochenende, welche europäischen Länder unter russische und welche unter amerikanische Herrschaft fallen könnten. Der ehemalige Kyjiwer Regierungsberater Anton Geraschtschenko veröffentlichte am Montag einen entsprechenden Mitschnitt der bizarren Debatte auf X.

Zuvor hatte Solowjow, der beim zweitgrößten staatlichen Sender Rossija-1 seine Propaganda veröffentlicht, am Wochenende bereits russische Angriffe auf das Baltikum ins Spiel gebracht. „Stimmt ihr mir zu, dass wir sie zerstören sollten, bevor sie aufrüsten können?“, fragte der Moderator seine Gäste.

„Wir brauchen den Sieg! Wir brauchen keinen Frieden“

Auch hinsichtlich der Gespräche in Istanbul machte Solowjow seine Haltung mal wieder überdeutlich: „Ihr seid es, die Frieden brauchen. Unser Ziel hingegen ist ein ganz anderes: Wir brauchen den Sieg! Wir brauchen keinen Frieden“, stellte der Moderator klar, was zuvor bereits vom Kreml angedeutet worden war.

Sollten Moskaus Bedingungen abgelehnt werden, werde die Ukraine Städte wie Charkiw und Odessa verlieren, drohte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow, und unterstrich, dass Russland die Verhandlungen nicht als Weg zum Frieden, sondern als alternative Route zu einem Sieg betrachtet. 

„Operation Spinnennetz“ entfaltet seine Wirkung in Russland

Die Wirkung von „Operation Spinnennetz“ entfaltet sich aber trotz der offensichtlichen Versuche des Kremls, das Thema in Russland kleinzuhalten. Insbesondere in den Regionen, die am Sonntag von den ukrainischen Drohnenangriffen überrascht worden waren, hinterlässt die Attacke Eindruck bei der Bevölkerung.

„Es war die reinste Feuerhölle“, zitierte „Radio Free Europe“ einen Bewohner der Region Irkutsk. „Ich habe den ganzen Albtraum durch ein Fernglas beobachtet – es war ein wirklich furchterregender Anblick.“ Es habe ausgesehen, als stünde der „gesamte Flugplatz in Flammen“, sagte der Mann. „Unser Haus wurde durch die Druckwelle mehrmals erschüttert“, erklärte ein anderer Bewohner der Region.

Grafik-Karte Nr. 109034, Querformat 90 x 80 mm, "Drohnenangriffe des ukrainischen Geheimdienstes auf Luftwaffenstützpunkte in Russland"; Redaktion/Grafik: A Brühl

Auch Kritik am Kreml wird laut: „Der Krieg ist im vierten Jahr, was wird im fünften Jahr passieren? Sie wissen nicht, wie man kämpft. Schließen Sie Frieden, blamieren Sie sich nicht“, sagte eine Frau, die sich laut RFE als Marina vorstellte. Andere kritisierten die russischen Sicherheitsdienste: „Wie? Wie ist das möglich? Wie konnten sie diese Lastwagen durchlassen?“

Kritik an Putin: „Schließen Sie Frieden, blamieren Sie sich nicht“

Die ukrainischen Drohnen waren von LKW in der Nähe der russischen Stützpunkte gestartet worden. Das Vorgehen ließ den russischen Streitkräften kaum eine Abwehrmöglichkeit. Mehr als anderthalb Jahre Planung seien in die Operation geflossen, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag.

Die Ukraine berichtete ungewöhnlich offen über die Durchführung des Großangriffs – und veröffentlichte einige Details. Vermutlich geschah auch das nicht ohne Grund: Am Montag kursierten zahlreiche Videoaufnahmen aus Russland, auf denen kilometerlange Staus zu sehen waren. Zahlreiche LKW reihen sich auf den Aufnahmen aneinander – offenbar, weil die russischen Sicherheitsdienste nun versuchen, LKW besser zu kontrollieren.

Freude in der Ukraine: „Jetzt herrscht in Russland der Paranoia-Modus“

„Jetzt herrscht in Russland der Paranoia-Modus: Jeder LKW wird kontrolliert, und es entstehen riesige Staus“, kommentierte der ehemalige ukrainische Wirtschaftsminister Tymofij Mylowanow die kursierenden Videos bei X nicht ohne Häme. „Genau das brauchen wir“, fügte er an. Der nächste Schritt sei nun, Russland „wegen jedes Autos und jedes Backpackers ausflippen“ zu lassen, fügte Mylowanow an. „Man könnte meinen, das sei eine Fantasie, aber es ist nur eine Frage der Zeit.“

„Operation Spinnennetz“ habe Russland die eigene Verletzlichkeit aufgezeigt, befand am Montag auch der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Gespräch mit ntv. Neben dem Schaden für das „Selbstbewusstsein der russischen Streitkräfte“ entfalte die Aktion auch in der Zivilbevölkerung ihre Wirkung, erklärte der Professor für Internationale Politik der Universität Köln.

Die Ukraine habe ungewöhnlich offen über den Angriff informiert, „weil Russland jetzt sehen muss, was ist in jedem Lastwagen drin ist, was ist in jedem Container drin, der russisches Gebiet erreicht“. Somit sei der ukrainische Angriff ein Erfolg gewesen, der „weit über den enormen militärischen Schaden hinaus“ gehe. Russlands „Abwehr“ habe versagt, erklärte Jäger – „und das in einem Maß, das aufschrecken muss.“