Volle OP-Säle, Luftalarm, verletzte RussenDas Dilemma der ukrainischen Ärzte

Lesezeit 4 Minuten
Arzt Ukraine 1 070322

Ein Mediziner sucht im Krankenhaus von Mariupol einen Moment der Ruhe. (Archivbild)

Köln/Kiew – Seitdem Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestartet hat, herrscht Ausnahmezustand in der Ukraine. Während sich die Bevölkerung vor den russischen Angriffen zu schützen versucht, kämpfen ukrainische Soldaten gegen die russischen Invasoren. Die Folge: Ukrainische Krankenhäuser arbeiten unter enormer Last. Immer mehr verwundete Zivilisten und Soldaten müssen versorgt werden – darunter auch russische.

So berichtet der Kiewer Arzt Vitaliy gegenüber „Buzzfeed News“, dass er drei russische Soldaten behandelt habe. Die drei Russen sollen zu einem Trupp gehört haben, der in den ersten Kriegstagen die ukrainische Hauptstadt Kiew angegriffen hatte. Zuvor erbeuteten sie Medienberichten und Angaben ukrainischer Stellen zufolge Militärfahrzeuge und ukrainische Uniformen und probierten dann, „undercover“ in die Stadt zu gelangen. Der Angriff konnte jedoch abgewehrt werden, die drei Russen landeten schwerverletzt auf einer Kiewer Krankenstation.

„Ich muss Zeit damit verbringen, diesem Stück Scheiße zu helfen“

„Einer von ihnen war sehr schwer verwundet und starb“, erklärte der Arzt Vitaliy, der aus Sicherheitsgründen nicht mit vollem Namen von „Buzzfeed News“ zitiert und dessen genauer Arbeitsort ebenfalls nicht veröffentlicht wurde. Die anderen beiden russischen Soldaten hätten überlebt – weil man sie in Kiew versorgt habe. Keinen Unterschied dabei zu machen, wen man behandelt, entspricht dem hippokratischen Eid, den Mediziner leisten. Dennoch stellt es ukrainische Ärzte in diesen Tagen vor innere Konflikte, wie Vitaliy berichtete.

Alles zum Thema Karl Lauterbach

„Ich denke, wir sollten ihnen helfen, aber natürlich habe ich dabei manchmal ein schreckliches Gefühl. Es fühlt sich an, als würde ich etwas Falsches tun“, sagte der Arzt. „Ich könnte meinen Leuten helfen, aber ich muss meine Zeit damit verbringen, diesem Stück Scheiße zu helfen.“

Mindestens 800 verletzte Zivilisten seit Kriegsbeginn

Angesichts der Brutalität mit der Putins Truppen auch gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine vorgehe, falle es besonders schwer, Mitgefühl zu zeigen. „Aber wir machen unsere Arbeit, weil es unsere Aufgabe und unsere Pflicht ist“, erklärte der Kiewer Arzt und hofft, dass man die geretteten russischen Soldaten gegen ukrainische Gefangene austauschen könne. „Ich sage mir also, dass das dazu beitragen kann.“

Laut Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) sind bisher rund 800 Zivilisten verletzt worden, laut OHCHR dürften die wahren Opferzahlen aber erheblich höher liegen, da das Hochkommissariat lediglich Todes- und Verletztenzahlen veröffentlicht, die es selbst überprüfen konnte. Die medizinische Lage in der Ukraine ist dementsprechend kritisch.

Trauer Ukrainer 070322

Ein ukrainischer Vater trauert am Leichnam seines Sohnes im Krankenhaus von Mariupol. (Archivbild)

Nicht nur die Menge an Verletzten stellt die Mediziner und Medizinerinnen dabei vor große Herausforderungen, sondern auch die Art der Verletzungen. Oft handelt es sich um Schusswunden und Verletzungen, die durch Explosionen verursacht wurden – kaum lokale Ärzte haben damit Erfahrung. „Sie sind nicht daran gewöhnt, sie müssen geschult werden, und dafür ist jetzt keine Zeit“, erklärte eine englische Ärztin, die laut eigenen Angaben Kontakt zu Kollegen in der Ukraine hat, gegenüber dem TV-Sender „itv“.

Zudem werde Ausrüstung und Sauerstoff knapp, berichtete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits in der letzten Woche. „Lastwagen sind nicht in der Lage, die Sauerstoffvorräte von den Werken zu den Krankenhäusern im ganzen Land zu transportieren, auch nicht in der Hauptstadt Kiew“, hieß es in der Warnung der WHO. „Dadurch sind Tausende von Menschenleben in Gefahr.“

„Wir arbeiten unter Beschuss“

Doch es ist nicht nur die Unterversorgung mit Materialen, die die Arbeit der Mediziner erheblich verändert. So gehöre nun auch die Entscheidung, welche Patienten bei einem Luftalarm in den Bombenschutzraum gebracht werden sollten und welche nicht, zu den Aufgaben der Ärzte, berichtete Dr. Volodymyr Suskyi gegenüber „itv“.

Diese schicksalhaften Entscheidungen müssten trotz enormer Arbeitsbelastung – Suskyi arbeitete eigenen Angaben zufolge sieben Tage ohne Pause durch und verbrachte auch die Nächte im Krankenhaus – getroffen werden, oft mehrmals täglich. „Die Realität des Krieges hat uns neue Regeln gegeben“, so Suskyi.

Das könnte Sie auch interessieren:

Und dann sind da noch die Berichte über russische Angriffe auf Krankenhäuser. Gegenüber „itv“ erklärte ein Arzt, der anonym bleiben will, „natürlich“ habe man angesichts dessen Angst. Dennoch werde man nicht mit der Arbeit aufhören, versicherte der Arzt Vitaliy. „Wir können nicht denken. Wir versuchen, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren", sagte er. „Wir arbeiten unter Beschuss.“

Deutschland hat unterdessen angekündigt, die Arbeit der Ärzte und Ärztinnen in der Ukraine unterstützen zu wollen. „Das Gesundheitswesen der Ukraine steht teilweise vor dem Zusammenbruch - darauf bereiten wir uns vor“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Montag in Berlin. „Deutschland wird eine zentrale Rolle bei der medizinischen Versorgung der Bürger aus der Ukraine spielen.“ 

KStA abonnieren