12.580 Kölner betroffenNRW meldet Rekord bei Wohnungslosen – Experte erwartet verschärfte Lage

Lesezeit 4 Minuten
Helfer warten auf Flüchtlinge aus der Ukraine.

Helfer warten im März 2022 auf dem Breslauer Platz in Köln auf geflüchtete Menschen aus der Ukraine.

In NRW haben rund 78.000 Menschen keine eigene Wohnung. Grund für den Spitzenwert ist auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine.

Die Zahl der Wohnungslosen in Nordrhein-Westfalen hat eine Rekordhöhe erreicht. Zum Stichtag 30. Juni des vergangenen Jahres hatten 78.350 Menschen im bevölkerungsreichsten Bundesland laut Landessozialministerium keine eigene Wohnung. Das sind rund 30.000 Menschen mehr als im Vorjahr, ein Plus von 62,3 Prozent.

Der Grund für diese hohe Zahl ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dadurch ausgelöste Fluchtbewegung. Viele Geflüchtete aus der Ukraine kommen zwar in Unterkünften des Landes, der Kommunen oder privat unter. Sie werden aber dennoch in die Statistik aufgenommen. 2021 war zuvor das erste Jahr seit 2011, in dem die Zahl der wohnungslosen Menschen nicht gestiegen war.

Rund 4000 Geflüchtete aus der Ukraine leben in Köln

In Köln schnellte die Zahl von 8170 Menschen im Jahr 2021 auf 12.580. Nach Angaben der Stadt stammen darunter rund 4000 aus der Ukraine. Die Stadt habe damit ihre Aufnahmequote bereits übererfüllt, sagte eine Sprecherin auf Anfrage.

Alles zum Thema Karl-Josef Laumann

Mehr als die Hälfte der Wohnungslosen in NRW war im Jahr 2022 männlich (56,8 Prozent). Ihr Anteil sank deutlich, weil die Mehrzahl der erwachsenen Geflüchteten aus der Ukraine Frauen (74,1 Prozent) waren. Etwa ein Viertel sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (2022: 27,1 Prozent, 2021: 22,2 Prozent) In der Regel sind sie zusammen mit ihren Eltern untergebracht.

Wohnungslosigkeit ist für mich nach Hunger die schlimmste Form von Armut.
Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU)

„Auch wenn klar ist, warum die Zahl der Wohnungslosen so stark angestiegen ist, muss sie uns natürlich zu denken geben. Wohnungslosigkeit ist für mich nach Hunger die schlimmste Form von Armut. Wohnungslosigkeit ist in einer von Wohlstand geprägten Gesellschaft wie der unseren nur schwer auszuhalten“, sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU).

„Dennoch müssen wir differenzieren: Wohnungslose Menschen leben in der Regel nicht auf der Straße. Mit der Wohnungslosenstatistik erfassen wir die Menschen, die keine eigene Wohnung haben. Diese Menschen sind in Notunterkünften untergebracht oder wohnen ohne eigenen Mietvertrag in von den Kommunen zur Verfügung gestellten Wohnungen, in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder auch bei Bekannten.“

Sozialforscher sieht Hilflosigkeit in der Kölner Politik

Für den Sozialforscher Thomas Münch, der seit den 1980er Jahren in der Sozialen Arbeit in Köln aktiv ist und sich an Wohnungslosen-Projekten wie Gulliver und dem Vringstreff beteiligt, wird sich die Lage in den NRW-Städten, allen voran in Köln, noch weiter verschärfen.

Er könne nicht erkennen, dass die Stadtverwaltung sich der Wohnungsnot in irgendeiner Form entgegenstemme, sagt der emeritierte Professor für Verwaltung und Organisation an der Hochschule Düsseldorf. Die Hilflosigkeit, mit der die Politik den Mieterhöhungen der stadteigenen Wohnungsgesellschaft GAG um bis zu 15 Prozent begegne, sei dafür ein aktuelles Beispiel.

Köln muss endlich damit beginnen, eine aktive Wohnungsbaupolitik zu betreiben
Thomas Münch, Sozialforscher

„Wegen der Interessen einiger Kleinaktionäre gibt die Stadt die GAG aus der Hand, anstatt sie zu einem Instrument des sozialen Wohnungsbaus zu machen“, sagt Münch. Die Stadt müsse endlich damit beginnen, eine aktive Wohnungsbaupolitik zu betreiben. Durch den sich immer weiter verschärfenden Mangel in Köln werde der Druck auf die Menschen, die auf der Straße leben müssen, immer größer. Nach Schätzungen der Stadt gibt es in Köln rund 300.

In Konkurrenz mit Wohnungslosen und Studierenden

Münch bestätigt, dass diese Klientel so gut wie keine Chance habe, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen. Mit dem Housing-first-Modell sei es dem Vringstreff zwar gelungen, im Laufe der Zeit 15 Menschen eine Wohnung zu vermitteln, doch das werde immer schwieriger. Sie müssen mit Wohnungslosen und Studierenden konkurrieren. „Die Obdachlosen sind die größten Verlierer einer solchen Wohnungspolitik wie in Köln. Die fallen überall durch den Rost.“ Er habe die Sorge, dass Menschen auf der Straße im nächsten Winter wieder erfrören, weil es keine Angebote für sie gebe.

Auch bei der Leerstand-Problematik sei die Verwaltung viel zu zögerlich. Der Wissenschaftler spricht von einem „fahrlässigen Unwillen von Politik und Verwaltung, das Problem der Wohnungslosigkeit anzugehen.“ Die Menschen verlören das Vertrauen in Politik und Verwaltung. 

Kölns Sozialdezernent Harald Rau hatte im Herbst 2022 angekündigt, die Stadt werde sich dem Ziel der Europäischen Union anschließen, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu besiegen. Man müsse darauf achten, „dass neuer Wohnraum konsequenter am Gemeinwohl orientiert ist“.

Laurenz Carré in Köln: Doch keine Sozialwohnungen

Wie schwierig das ist, zeigte sich zuletzt bei der Bebauung des Laurenz Carré in der Innenstadt. Der Bauherr, die Düsseldorfer Gerch Group, hatte angekündigt, dass sich der Plan, 30 Prozent der Wohnungen im öffentlich geförderten Wohnungsbau zu errichten, nicht mehr realisieren lasse. Von der Stadt gezwungen werden kann er dazu nicht.

Sozialforscher Thomas Münch fordert die Stadt zum Handeln auf: „Die Stadt muss endlich mal Geld in die Hand nehmen und eine eigene Wohnungsgesellschaft mit dem Ziel gründen, ausschließlich Sozialwohnungen zu bauen. Das Wohnen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen darf nicht mehr dem freien Markt überlassen werden.“

KStA abonnieren