Thyssenkrupp steigt in klimaneutrale Stahlproduktion einDas Ende der Hochöfen im Ruhrgebiet naht

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Wasserdampfwolken umgeben zwei Hochöfen bei Thyssenkrupp

Thyssenkrupp will in Duisburg eine neue Anlage bauen, die kohlendioxidarmen Stahl produzieren kann.

Rund 1,8 Milliarden Euro kostet der Einstieg beim größten deutschen Stahlhersteller Thyssenkrupp in eine klimaneutrale Stahlproduktion. Das Land NRW will das Großprojekt mit bis zu 700 Millionen Euro fördern. 

So viel Euphorie war selten in Duisburg, dem Herzen des Ruhrpotts, das über Jahrzehnte immer neue Schrittmacher brauchte, um einen Strukturwandel nach dem anderen zu überleben. Doch das soll in der größten Stahlregion Europas innerhalb weniger Jahre alles anders werden.

„In unserer mehr als 200-jährigen Geschichte hat es viele Umbrüche gegeben“, sagt Bernhard Osburg, Vorstandschef von Thyssenkrupp Steel Europe (TKS) am Mittwochmorgen im schmucklosen Besucherzentrum am Ende des Stahlwerks. „Aber kein Meilenstein der Vergangenheit ist derart entscheidend wie die technologische Wende, die wir heute einleiten.“ TKS soll spätestens bis 2045 klimaneutral werden, also zu 100 Prozent grünen Stahl produzieren.

Erster Hochofen in Duisburg soll schon Ende 2026 abgeschaltet werden

Am Freitag hat TKS, einer der größten Stahlproduzenten Europas mit 26.000 Beschäftigten, der Düsseldorfer SMS-Group, den mit 1,8 Milliarden Euro größten Einzelauftrag ihrer Firmengeschichte erteilt. Bereits Ende 2026, also in weniger als drei Jahren, soll auf einem Areal, auf dem heute noch Stahlbrammen gelagert werden, die erste mit Wasserstoff betriebene sogenannte Direktreduktionsanlage (DR) zur klimaneutralen Stahlerzeugung in Betrieb gehen.  Sie wird den ersten von vier Hochöfen ersetzen, in denen bis heute das Roheisen unter dem Einsatz von Kohle produziert wird.

Alles zum Thema Hendrik Wüst

Als erster Stahlhersteller der Welt will TKS die DR-Anlage, in der festes Vormaterial erzeugt wird, mit innovativen Einschmelzern kombinieren, die es in flüssiges Eisen umwandeln. Anders als Hochöfen produzieren DR-Anlagen kein flüssiges Roheisen, sondern festen Eisenschwamm. Damit dieser zu Stahl weiterverarbeitet werden kann, muss er erst eingeschmolzen werden.

Dieser Prozess hat einen unschlagbaren Vorteil, weil alle weiteren Produktionsschritte ab dem Stahlwerk unverändert bleiben. „Wir werden unseren Kunden auch in Zukunft alle hochwertigen Stahlgüten in gewohnter Premiumqualität bieten können“, sagt Vorstandschef Osburg. Und das klimaneutral. „Um die Dimension zu verdeutlichen: Wir stoßen aktuell jährlich rund 20 Millionen Tonnen CO₂ aus. Das entspricht etwa 2,5 Prozent der gesamten deutschen CO₂-Emissionen.“

Dekarbonisierung hängt an der Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff

Das allein sei schon Grund genug, aber bei TKS sei man auch grundsätzlich davon überzeugt, dass „die kohlebasierte Stahlproduktion in Europa keine Zukunft mehr hat“, ergänzt der Vorstandschef. „Aber der Stahl hat Zukunft, wenn er grün produziert wird.“

Die neue Anlage wird auf einem Gelände entstehen, das sich im Norden direkt ans Stahlwerk anschließt und den Arbeitstitel „Industriestadt“ trägt. 700.000 Arbeitsstunden an Ingenieurleistungen und fünf Millionen Stunden für das Projektmanagement werde TKS investieren.

Die Dekarbonisierung der Stahlindustrie im Ruhrgebiet ist nicht ohne Risiken. Ob in drei Jahren, wenn die erste Anlage den Betrieb aufnimmt, überhaupt grüner Wasserstoff zur Verfügung steht, kann heute keiner mit Sicherheit sagen. Ob es bis dahin Pipelines gibt, durch die er an Ort und Stelle gelangt, auch nicht.

TKS bemüht sich zwar um Lieferanten, doch mehr als Absichtserklärungen sind bisher dabei nicht herausgekommen. Das Essener Energieunternehmen Steag plant derzeit, direkt neben Thyssenkrupp im Duisburger Stadtteil Walsum einen Elektrolyseur zu errichten, der jährlich bis zu 75.000 Tonnen Wasserstoff liefern soll. Das könnte für die erste der vier geplanten DR-Anlagen reichen.

Ende 2027 soll der erste Wasserstoff zum Einsatz kommen, bis dahin kann und soll die neue Anlage laut TKS auch mit Erdgas gefahren werden. Danach plane man mit einer Hochlaufkurve, die natürlich von der verfügbaren Menge abhängig sei. Allein durch die erste Anlage könnten pro Jahr 3,5 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden.

Stahlherstellung braucht jährlich die fünffache Strommenge von Hamburg

Wenn TKS, wie bis 2045 geplant, den gesamten Stahl klimaneutral herstellen will, seien dafür jährlich 700.000 Tonnen Wasserstoff erforderlich, erklärt Osburg. Das ist eine gigantische Menge. Um sie zu erzeugen, braucht man grünen Strom in einer Größenordnung von bis zu 50 Terrawattstunden (TWh). Das sei die fünffache Menge des Stromverbrauchs von Hamburg. „Diese komplexe Transformationsaufgabe kann nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Unternehmen, Politik und Gesellschaft gelöst werden.“

Genau das wird geschehen. Das Land NRW wird das Projekt mit bis zu 700 Millionen Euro fördern. Dem Tag der Superlative muss Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) einen weiteren hinzufügen: „Das ist die größte Einzelförderung, die es in der Geschichte des Landes je gegeben hat.“ Es gehe darum, eine komplette Wertschöpfungskette zukunftsfähig zu machen. Auf grünen Stahl „Made in Nordrhein-Westfalen“ werde weltweit gewartet. „Deshalb tragen wir gern zum Gelingen bei.“

EU-Kommission hat noch kein grünes Licht erteilt

Dass Thyssenkrupp schon ins Risiko gehe, obwohl die EU-Kommission den Prozess der Notifizierung noch nicht abgeschlossen habe, es also noch unklar sei, welche Beihilfen konkret fließen können, sei bemerkenswert.

Dass die Investition von 1,8 Milliarden Euro an die SMS-Group aus Düsseldorf „mit einer starken Geschichte in Südwestfalen geht“, sei auch „ein guter Tag für den Maschinen- und Anlagenbau-Standort.“ Damit stelle NRW unter Beweis, dass es die Transformation der Großindustrie aus eigener Kraft schaffen könne. „Wir machen das jetzt vor, wie es geht, um nachher der ganzen Welt diese Anlagen zu verkaufen.“

Ganz so euphorisch wie der Ministerpräsident mag das Martina Merz, Vorständin der Thyssenkrupp AG, noch nicht sehen. „Wir betreten damit technologisches und betriebswirtschaftliches Neuland“, sagt sie. „Denn beispielsweise bei den Energie- und Gaspreisen sowie der Verfügbarkeit und den künftigen Kosten von Wasserstoff arbeiten wir mit Annahmen, von denen wir nicht wissen können, ob sich die Märkte auch so entwickeln. Das gehört zur Wahrheit dazu.“

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