Kölnerin leidet an der Nervenkrankheit ALSNatalja beschließt zu sterben

Lesezeit 15 Minuten
Neuer Inhalt (3)

Natalja J. möchte de Zeitpunkt für ihren Tod selbst bestimmen.

Köln – Als sie im Februar erfährt, dass sie an der Nervenkrankheit ALS leidet, beschließt Natalja J., dem Verlauf der Krankheit zuvorzukommen. Sie möchte nicht irgendwann mit Hilfe eines Computers sprechen wie der Physiker Stephen Hawking. Sie möchte nicht ans Bett gefesselt und auf Hilfe angewiesen sein. Sie möchte nicht nach und nach die Kontrolle über Muskeln und Sprache verlieren. „Das entspricht nicht meinem Selbstbild“, sagt sie.

Natalja J. (67), Kindergartenleiterin im Ruhestand, sagt, sie habe sich immer über ihren Körper und die Sprache definiert. Natalja J. beschließt zu sterben.

Bundesverfassungsgericht hat Sterbehilfe erlaubt

Die Frau mit den hellen Augen und dem rotbraunen Haar gilt unter Freunden als „resolut und unnachgiebig“, manche empfinden sie als „etwas radikal“. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe sie das durch. Immer. Nach der Diagnose beginnt Natalja mit der Recherche. Sie weiß, dass das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 entschieden hat, dass Sterbehilfe zulässig ist, dass die Bundesregierung die Grundsatzentscheidung aber noch nicht in ein Gesetz gegossen hat.

Alles zum Thema Karl Lauterbach

Sie ruft bei befreundeten Ärzten und Krankenpflegerinnen an, informiert sich beim Palliativdienst, schreibt ans Bundesgesundheitsministerium. Niemand ist bereit, ihr die todbringenden Barbiturate zu besorgen. Bei der Gesellschaft für humanes Sterben meldet sie sich nicht an – „ich möchte nicht für meinen Tod viel Geld bezahlen“, sagt sie.

Neuer Inhalt (3)

Mit einem elektrischen Rollstuhl fährt sie weiter in den Park oder in die Südstadt in eine ihrer Lieblingskneipen.

Natalja überlegt nicht nur, wie sie selbstbestimmt sterben kann. Sie lässt sich beim Sterben auch von Journalisten begleiten. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und ein Filmteam des „WDR“ dürfen dabei sein, sollen dabei sein. Beim Gang zum Bestatter und Gesprächen mit einem Pfarrer, bei einem Fest zu ihren Ehren, beim Sterben üben mit einer spirituellen Lehrerin. Weil ihr die Sache wichtig sei, sagt sie Anfang April in ihrer Wohnung, in der ihre bunt bemalte Urne in einem Regal steht. „Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, dass selbstbestimmtes Sterben gesetzlich geregelt wird. Es gibt so viele traurige Fälle, in denen sich Menschen das gewünscht hätten und der eigene Versuch in einer Katastrophe endete.“ Ein Satz wie eine Vorahnung.

„Der Kampf um selbstbestimmtes Sterben ist mein letzter“

Sie sagt: „Ich bin wütend auf Jens Spahn, der die Entscheidung des Verfassungsgerichts als Gesundheitsminister torpediert und Anträge auf die erlösenden Medikamente von seiner Behörde ablehnen lässt. Ich war immer eine Kämpferin und der Kampf um selbstbestimmtes Sterben ist jetzt mein letzter.“ Selbstbestimmt, sagt sie, das heiße für sie: „Bis zuletzt die Kontrolle über mein Leben zu behalten.“

Sterbehilfe. In eigener Sache

Die Redaktion hat nach reiflicher Abwägung entschieden, dass Natalja J. die richtige Protagonistin ist, um sich dem Thema Sterbehilfe zu nähern. Weil J. zwar für eine extreme Haltung steht, aber das juristische und moralische Dilemma eben dadurch besonders gut veranschaulicht. 

Wenn Sie Gedanken haben, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit anderen Menschen. Die anonyme, kostenlose Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, Telefon 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. 

Ein Vormittag im Frühling, das Wetter wie ein ganzes Jahr. Durch schwarze Wolken gleißen Sonnenstrahlen, es stürmt und hagelt, der Himmel reißt auf, Blüten wirbeln durch die Luft, das Leben meldet sich nach dem Coronawinter zurück. Natalja trippelt an ihrem Rollator durch die Südstadt. Vor dem nur für den To-go-Betrieb geöffneten Restaurant Filos steht ihr alter Freund Costa Fotiadis. „Ich würde gern mit dir über meine Memorialfeier sprechen“, sagt sie, und rattert los: 100 Gäste sollen kommen, wenn Corona es zulässt, die Urne mit ihrer Asche soll auf der Theke stehen, rechts daneben ein Fass Kölsch, links eine Kerze, sie sei dabei, eine Musikliste zusammenzustellen, „es soll gelacht und getanzt werden, das ist mir ganz wichtig“. Fotiadis  versteht nicht. „Was willst Du eigentlich genau von mir, meine Liebe?“, fragt er. „Erzähle ich dir bald in Ruhe“, sagt sie. „Es geht um meinen Tod.“ Costa guckt ungläubig, Natalja fasst ihn kurz am Arm. „Es geht nicht mehr so, wie es mal ging. Aber das ist nicht so schlimm.“

Sie lacht über den Tod

J. lacht oft bei dem Spaziergang durch die Südstadt. Sie flachst über ihren roten Rollator, gleiche Farbe wie ihr Smart, 117 PS, den sie vor kurzem einer Freundin geschenkt habe. Sie lacht über den Tod, an den sie ohnehin nicht glaube. „Ich glaube, dass ich reinkarnieren werde“, sagt sie, „als was, weiß ich nicht, aber es soll etwas sein, das hilft, diese Erde zu retten.“

Sie freut sich über die Apfelblüten und das helle Grün der Buchenblätter. Sie schwelgt im Leben und flicht fast beiläufig den Satz ein:  „Wenn auch die zweite Körperhälfte gelähmt ist und ich nicht mehr laufen kann, ist Schluss. Und wenn mir die Stimme so versagt, dass ich nicht mehr sprechen kann, auch.“ Sätze wie Schüsse. Manche erschrecken, wenn sie diese Sätze sagt, als gebe es keinen Zweifel, einige sind auf Distanz gegangen. Viele wollten sie bekehren.

Neuer Inhalt (3)

Im Frühjahr lief sie noch mit ihrem Rollator durch die Südstadt.

Seit März hat Natalja J., die sich vor drei Jahren selbst zur Sterbebegleiterin ausbilden ließ, einen Sterbebegleiter. Der sagt, er könne ihre Haltung nachvollziehen. Die Vorstellung, nach und nach die Kontrolle über Körper und Sprache zu verlieren, sei für viele Menschen schwer erträglich. „Nur der Zeitpunkt, den sie wählen möchte, der erscheint mir sehr früh. Vielleicht wird der Wille, zu leben, bei ihr stärker sein, wenn es so weit ist.“

Seit das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass ein Verbot der Suizidhilfe verfassungswidrig sei – ein Mensch müsse auch nicht unheilbar krank sein, um zu entscheiden, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist – wird in Deutschland öffentlich debattiert. Wie das Urteil ausgestaltet wird, überließ das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber. Längst gibt es mehrere Gesetzentwürfe, die zum Beispiel sicherstellen sollen, dass der Sterbewunsch frei und ernsthaft getroffen wird und über einen längeren Zeitraum besteht; eine Beratung wird vorausgesetzt. Der Entwurf eines „Gesetzes zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben" der Grünen-Abgeordneten Renate Künast und Katja Keul unterscheidet zwischen Menschen, die aufgrund einer Krankheit – die nicht notwendig einen tödlichen Verlauf nehmen muss - sterben wollen und solchen, die aus anderen Motiven nicht mehr leben möchten. In dem einen Fall sollen Ärzte, im anderen eine Landesbehörde entscheiden. Ein Entwurf von Katrin Helling-Plahr und Otto Frick (FDP), Karl Lauterbach, Swen Schulz (beide SPD) und Petra Sitte (Die Linke) sieht  unabhängig von der Motivation für den Sterbewunsch eine Verschreibung durch Ärztinnen und Ärzte nach eingehender Beratung vor.

Sie sammelt Schlaftabletten

Natalja J. kennt sämtliche Gesetzentwürfe. Sie findet alle zu kompliziert. Sie wolle nicht sechs Monate warten, um nochmal nachzudenken über ihren Todeswunsch. „Ich komme mir ständig, auch jetzt im Gespräch mit Ärzten, unmündig vor, als versuchte man, mir meinen freien Willen zu nehmen.“ Ihrem Arzt hat sie von Schlafstörungen erzählt, die sie „nie hatte“. Die verschriebenen Tabletten sammele sie, „inzwischen habe ich mehr als 60. Dazu wird man ja gezwungen, wenn einem das Zeug niemand verschreibt“. Inzwischen recherchiert sie im Darknet – einem versteckten Teil des Internets – nach Möglichkeiten des Freitods.

Beim Treffen im April hustet sie gelegentlich beim Sprechen, manchmal zieht sie die Luft etwas mühsam ein. „Es fühlt sich ab und zu so an, als müsste ich meine Zunge verschlucken“, sagt sie. Ihre rechte Seite ist teilweise gelähmt, seit zwei Wochen braucht sie einen Rollator, um einkaufen zu gehen. Ein Rollstuhl steht im Hof. Ihr E-Bike hat sie vor einigen Tagen verschenkt, die Regale in ihrer Wohnung leeren sich. Sie überlässt in diesen Wochen allen Freunden etwas, „das hilft beim Loslassen“, sagt sie.

Neuer Inhalt (3)

Über den Tod will Natalja J. auch lachen.

Bei jeder Patientin schreitet die Krankheit, an der rund 7000 Menschen in Deutschland leiden, anders voran. Ein Medikament kann den Verlauf verlangsamen, aufhalten lässt sich ALS nicht. Sie habe gelernt, dass „die Zeit flüchtiger ist als der Wind“, sagt Natalja J. „Eine Lehre der Krankheit ist: Verschiebe nichts! Wenn Du etwas machen möchtest, mache es sofort.“

Sie wollte: Tanzen, singen, reisen

Sie wollte so vieles machen als Rentnerin: Tanzen, singen, Konzerte besuchen, reisen. Als langjährige Leiterin von Kölner Kindertagesstätten hat sie so viel gespart, dass das möglich gewesen wäre. Wenn sie erzählt, schmilzt ihr Leben zusammen. Die Kindheit in Düren, in den USA und in Köln. Der Vater, katholischer Krankenhausgeistlicher, die Mutter, die Patientin in der Klinik war, eine große Liebe, aus der sie, Natalja, hervorging: der Sündenfall. Die Jugend voller Reisen, Jungs und Musik. Fotos an der Wand der Wohnung zeigen eine junge schöne Frau am Strand, nackt mit Rucksack am Strand von Naxos.

Sie erinnert sich an die Jahrzehnte als Erzieherin, die Kämpfe mit dem Jugendamt, Männer. Ihre Hobbys: Bauchtanz, Motorradfahren, singen, Rockmusik, Yoga, Südstadtkneipen, Gespräche. Ihre Hinwendung zur Spiritualität; Buddhismus, Hinduismus, indianische Kulturen, Schamanismus. Sie sagt, sie habe nichts ausgelassen: „Ich habe immer gelebt.“

Neuer Inhalt (3)

Im Regal steht die Urne, in welcher sie einmal bestattet werden will.

Die Urne im Regal ist bemalt mit ihrem hinduistischen Lieblingsgott Shiva und ihrem Lieblingstier, dem Tiger. Den Tiger reitet Durga, der Gott, der die Angst überwindet. Mit der Angst zu tanzen sei ein schönes Bild, findet sie. „Der Tod, die Zerstörung, ist ja nichts Schlimmes, sondern die Voraussetzung für Neues.“

Im Ruhestand hat sich Natalja J. bis zur ersten Welle der Corona-Pandemie für die Friday’s-for-future-Bewegung engagiert, im Frühjahr 2021 lässt sie sich im Rollstuhl von ihrem Sterbebegleiter noch einmal auf eine Kundgebung fahren.  „Wenn wir das Klima nicht schützen, können die jungen Generationen nicht mehr selbstbestimmt leben“, sagt sie. Im Ruhestand hatte sie eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin gemacht, „weil der Tod mich schon immer interessiert hat“. Sie wollte Sterbenden in ihren letzten Wochen Nähe geben, Händchen halten, da sein, „weil ich so oft gesehen hatte, dass sterbenden Menschen einsam sind“.

„Ich weiß, dass viele das zu krass finden“

Die meisten Menschen, die öffentlich sagen, dass sie selbstbestimmt sterben wollen, sind Vollpflegefälle. Wenn Natalja sagt, dass sie sterben möchte, sobald sie nicht mehr allein aufstehen oder sprechen könne, klingt das extrem. Leben nicht Hunderttausende im Rollstuhl? Gibt es nicht Millionen Menschen, die nicht richtig sprechen können? Ist ihre Haltung nicht anmaßend? „Ich weiß, dass viele das zu krass finden“, sagt sie. „Ich wollte immer viel vom Leben. Und wenn der Körper oder die Sprache nicht mehr funktionieren, genügt mir das nicht mehr. Ich möchte nicht gefüttert und gepampert werden.“

Längst hat J. eine Patientenverfügung verfasst. Ihr Testament geschrieben. Mit ihrem Bestatter gesprochen. Im April und Mai organisiert sie ihre Trauerfeier. Vor einigen Tagen hat sie sich mit einer Freundin getroffen, mit der sie sich zerstritten hatte – am Ende umarmten sie sich. Sie erlebe gerade viele letzte Umarmungen, sagt sie. „Das ist traurig, aber auch sehr schön.“

Ein Abschiedsfest in der Lutherkirche

Ein vorsommerlicher Tag im Mai. Aus der Lutherkirche dringen Melodien von Janis Joplin und Leonhard Cohen. Pfarrer Hans Mörtter hat – mitten im Lockdown – ein als Gottesdienst deklariertes Konzert für Natalja organisiert. Sie hatte es sich gewünscht – ihre Freunde wollten ihr den Wunsch erfüllen. Mörtter segnet J., die weint und lacht. Kameras filmen mit.

Die katholische und die evangelische Kirche lehnen die Sterbehilfe ab. Sie sei nicht vereinbar mit dem Gedanken, dass Gott das Leben gebe und nehme. Der Hospizdienst verweigert deswegen auch ein Interview mit Nataljas Sterbebegleiter. Menschen wie Natalja J., die öffentlich für ihr Recht auf Freitod kämpfen, könnten Nachahmer auf den Plan rufen. Hans Mörtter sagt, der Glaube könne zwar helfen, den Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen, die strikte Ablehnung von Suizidhilfe befeuere diese Angst aber noch. Als Seelsorger habe er vielen Angehörigen sagen müssen, dass ihre Liebsten sich auf zum Teil grausame Art umgebracht hätten. „Natalja möchte selbstbestimmt auch im Sterben sein. Sie hat keine Angst vor dem Tod, aber vor einem langsamen Sterben. Ich finde, das sollte man akzeptieren.“

Mörtter findet Debatte „verlogen“

Er glaube nicht an die Argumente von Sterbehilfegegnern, dass einige Menschen auch deswegen die todbringenden Medikamente nehmen würden, um ihren Angehörigen nicht länger zur Last zu fallen. „Eine Gesellschaft, die das Leben an sich über alles setzt, ist verlogen. Es geht immer darum, den einzelnen Menschen zu verstehen.“ Daher bedürfte es auch einer Gesetzgebung, die den Todeswunsch der Betroffenen „genau und von verschiedenen Stellen prüft“.

Die Zahl der Menschen, die sich bei Sterbehilfevereinen anmelden, hat sich seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mehr als verdoppelt. Am Tag des Abschiedskonzerts für J. streicht der Deutsche Ärztetag den Satz „Ärzte und Ärztinnen dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ aus seinen Statuten. Eine Konsequenz aus dem Gerichtsurteil. Ob Ärzte todbringende Medikamente verschreiben, bleibt ihnen selbst überlassen. Die meisten tun es nicht. Als J. die Nachricht in der Kirche auf dem Smartphone liest, ballt sie die Faust. „Vielleicht trauen sich jetzt einige Ärzte“, sagt sie.

Bis Mitte Juni hat sie keinen gefunden, der ihr die todbringenden Medikamente verschreibt. Sie hat es bei befreundeten Ärzten versucht, beim Palliativdienst, sogar bei Tiermedizinern. Alle haben abgewunken.

Jetzt hat sie im Netz ein Buch mit Anleitungen zum Suizid gefunden. Sie hat sich für einen Cocktail aus Medikamenten entschieden, die ihr Ärzte einzeln  dann doch verschrieben haben. 50 Anleitungen zum Suizid werden in dem Buch ausführlich beschrieben. J. favorisiert eine, für die sie Beruhigungsmittel und Medikamente hoch dosiert mörsern und auflösen muss. Wie eine Wissenschaftlerin erklärt sie, wie welches Mittel wirke, „dann entschlafe ich und gehe über den Regenbogen“.  Inzwischen war sie bei ihrer spirituellen Lehrerin in der Eifel, die mit Blüten das Bild des Gottes Durga legte, der den Tiger reitet. Sie sollte Kontakt aufnehmen zu ihren Ahnen, die Lehrerin habe mit ihr den Moment des Sterbens geübt. „Nach dem Probesterben war ich beruhigt und entspannt.  

Der Tod hat für sie nichts erschreckendes

In die Öffentlichkeit gehe sie, weil sie das Verhältnis der Gesellschaft zum Tod störe. „Die Angst vor dem Tod nimmt in Deutschland viel zu viel Raum ein, das hat man auch in der Corona-Krise gesehen.“ Die Fokussierung auf die medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung führte dazu, dass „ein möglichst langes Leben als höchster Wert gilt“. Sie sehe das anders. „Leben heißt für mich, meine Energie so einzusetzen, wie ich es möchte.“ Und Tod? „Hat für mich nichts Erschreckendes. Weil die Energie erhalten bleibt. Und ich daran glaube, dass es danach noch viel schöner wird.“ 

Das könnte Sie auch interessieren:

Ihre Stimme ist hell und klar. Nur manchmal bricht sie – wenn sie die Verabschiedung von Freunden denkt oder eigene Fehler. Zweimal habe sie abgetrieben, sagt sie, „was ich an sich nicht bereut habe. Aber nicht verhütet zu haben, das habe ich immer wieder bereut“. Sie erinnert sich daran, wie sie eine gesunde Katze einschläfern ließ und eine andere aussetzte, als sie zu einem Freund ziehen wollte, der Katzen in der Wohnung nicht akzeptierte. „Das war vielleicht mein größter Fehler. Das hat mich oft eingeholt.“ Zum Abschied sagt sie: „Mach’s gut. Wir werden uns nicht mehr sehen. Nächste Woche wird es soweit sein.“ Es ist der 10. Juni.

Knapp zwei Wochen später kommt eine Whatsapp von ihr mit einem satirischen Foto. Als sie ans Handy geht, klingt sie benommen. Sie liege im Mildred-Scheel-Haus, sagt Natalja, „das ist wohl ziemlich in die Hose gegangen“. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni habe sie den in Apfelmus aufgelösten Medikamentencocktail genommen. Sie habe den Brei offenbar nicht schnell genug runterbekommen und sei eingeschlafen. „Man hat mich dann am Abend gefunden und auf eine Intensivstation gebracht, jetzt bin ich hier.“ Sie esse und trinke nun nichts mehr, sagt sie mit erstickter Stimme. Dabei hätte sie jetzt „Lust auf ein Kölsch“. Das Sterben, sagt sie, „hätte ich mir anders vorgestellt“.

Zwei Wochen bleibt sie im Mildred-Scheel-Haus. Sie nimmt ab, die Muskeln erschlaffen, zwischendurch erhält sie Opiate, die erträglicher machen sollen, dass sie innerlich austrocknet. Am Telefon hört sie sich weggetreten an. Sie esse nicht, lutsche aber Eiswürfel, um die Zunge zu benetzen, manchmal Eisblöcke mit gefrorenem Kaffee.

Anfang Juli kehrt J. in ihre Wohnung in der Südstadt zurück. Sie hat jetzt ein Palliativbett, ein Pflegedienst betreut sie rund um die Uhr. „Mein Körper fühlt sich seltsam an, als würde nach und nach alles zu Brei zermatschen“, sagt sie. „So fühlt es sich also an, langsam zu sterben.“ Ein Mediziner sagt, es könne noch einige Tage, aber auch Wochen dauern. Sie sei „wütend und enttäuscht“, dass sie nicht selbstbestimmt habe sterben dürfen, sagt Natalja. Ihre Stimme klingt zerbrechlich.

Natalja versucht es mit Sterbefasten

Sie wird schwächer. Nimmt weiter ab, manchmal halluziniert sie. J. kommt in ein Hospiz in Bensberg, eine Luxusherberge, „mit nachmittags Sekt und allem pipapo“. Sie rührt kein Essen an und kein Trinken, benetzt ihren Mund nur mit feuchten Stäbchen. „Es ist eine grausame Art, zu sterben“, sagt sie, „ich würde das keinem empfehlen“.

Am 39. Tag bricht sie das Sterbefasten ab. Womöglich habe sie unterschätzt, was das heiße: sterben. Wenn  es um einen Jobwechsel geht oder die Beendigung einer Beziehung, mögen resolute Charaktere wie sie sich nicht beirren lassen. Wenn es um den eigenen Tod geht, melden sich Lebensgeister, die man nicht kannte.

„Ich soll wohl noch leben“

Sie findet ein Wohnheim für betreutes Wohnen in Zollstock und richtet sich wieder im Leben ein. Im August präsentiert sie ihre „neuen Beine“ – einen Rollstuhl, in dem sie jetzt regelmäßig Aerobic macht. Im September wird ein elektrischer Rollstuhl geliefert, mit dem sie jetzt täglich in die Südstadt fährt, ins Filos zum Beispiel. J. hat sich bei der Gesellschaft für humanes Sterben angemeldet. Noch sei nicht der Zeitpunkt für den Tod gekommen. „Ich soll wohl noch leben“, sagt sie. „Und das nehme ich jetzt an.“

Mitte November fällt ihr das Sprechen schwerer. Täglich verschlucke sie sich inzwischen an ihrem eigenen Speichel, sagt sie. „Ich habe dann das Gefühl, zu ersticken.“ Inzwischen hat Natalja J. eine Ärztin gefunden, die ihr die todbringenden Barbiturate verschrieben hat. Sie bewahrt sie in ihrem Zimmer auf, die Urne steht auf dem Regal. Wenn es Zeit ist zu sterben, werde ein befreundeter Arzt an ihrer Seite sein und „Händchen halten“. Wann das sein werde, entscheide sie selbst.

KStA abonnieren