Köln blickt zurück auf einen Tag, der die Stadt erschütterte. Wie geht es den Opfern heute – und was wurde aus dem Täter?
Zehn Jahre nach Kölner AttentatWas der Angriff auf Reker mit Opfern, Täter und dem Land gemacht hat

Ein Polizist sichert am 17.10.2015 in Köln nach dem Attentat auf die OB-Kandidatin Henriette Reker den Tatort in Braunsfeld.
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Er hat sich jenen Samstag zurechtgelegt wie andere einen Feiertag. Frank S., arbeitsloser Maler, Sozialhilfeempfänger, Einzelgänger und ehemals in der Bonner Neonazi-Szene unterwegs, wähnt sich im Kampf gegen die Bundesrepublik Deutschland. Eine Republik, die in seinem verzerrten Weltbild „endgültig zum Islam überläuft“. Das will er nicht länger hinnehmen. Frank S. hat eine Mission, und die endet an diesem Samstagvormittag in einer Katastrophe.
Das Attentat auf Henriette Reker, ausgeführt von Frank S., bildet eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte, es war der erste Mordanschlag auf eine Kommunalpolitikerin oder einen Kommunalpolitiker seit dem Ende des Nationalsozialismus. Genau zehn Jahre später blickt der „Kölner Stadt-Anzeiger“ zurück auf die Tat und ihre Folgen: Wie geht es den Opfern heute? Was ist seitdem geschehen? Und was macht der Täter, der im Juli 2016 wegen versuchten Mordes verurteilt wurde?
Köln: Mit zwei Messern verlässt der spätere Attentäter das Haus
Der 17. Oktober 2015 ist der letzte Tag vor der Kommunalwahl. Im Internet hat Frank S. recherchiert, dass Kölns OB-Kandidatin Henriette Reker morgens auf dem Wochenmarkt in Braunsfeld Wahlkampf macht. Der 44-Jährige steckt zwei Messer ein und verlässt das denkmalgeschützte Mehrfamilienhaus in Köln-Nippes. Mit der Straßenbahn fährt er nach Braunsfeld.
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Zwischen Marktständen mit Äpfeln, Käse und Gemüse verteilt Henriette Reker Rosen an Passanten. Reker ist die gemeinsame OB-Kandidatin von CDU, Grünen und FDP. Als Kölner Sozialdezernentin ist sie unter anderem zuständig für die Unterbringung von Geflüchteten in der Stadt.

Menschenkette nach dem Attentat auf Henriette Reker am Historischen Rathaus, u.a. mit Christian Lindner (FDP), Hannelore Kraft (SPD) und Armin Laschet (CDU).
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Um kurz nach 9 Uhr tritt Frank S. auf sie zu, bittet um eine Rose – und zieht ein Jagdmesser. Er rammt Reker die Klinge in den Hals. Sie bricht zusammen. Sekunden später verletzt der Rechtsextremist mit dem zweiten Messer Rekers engen Mitarbeiter Pascal Siemens und die Kommunalpolitikerinnen Marliese Berthmann (CDU), Katja Hoyer (FDP) und Anette von Waldow (FDP). Bevor Polizisten ihn abführen, baut er sich laut Zeugen in Siegerpose auf dem Wochenmarkt auf und brüllt: „Reker, Merkel, Flüchtlingsschwemme“ und: „Das habe ich für euch getan.“ Eigentlich, so sagt S. später, habe er ein Attentat auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwogen. Aber er habe keine Chance gesehen, an sie heranzukommen.
Zehn Jahre später sitzt der Mann in einer Zelle einer Justizvollzugsanstalt mitten in NRW. Zu 14 Jahren Haft hat ihn das Düsseldorfer Oberlandesgericht 2016 verurteilt. Die Strafe ist noch nicht verbüßt. Wie S. sich im Gefängnis führt, wann er entlassen wird, ob er möglicherweise vorzeitig herauskommt – all das ist unklar. Mit Blick auf das Persönlichkeitsrecht des Gefangenen und den gesetzlich verankerten Resozialisierungsgedanken äußern sich die Verantwortlichen nicht genauer.
Er interessiert mich einfach gar nicht
Über die Anstaltsleitung der JVA hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ versucht, S. zu kontaktieren, wollte unter anderem wissen, wie er auf die Tat zurückblickt, woher sein Hass kam, ob der Hass immer noch da ist. Zunächst stimmte er einem Gespräch zu, dann sagte er ohne Angabe von Gründen wieder ab.
Allerdings hat er den Wunsch geäußert, sich mit Reker zu treffen, heißt es. Doch die zögert, wie sie im kürzlich preisgekrönten Podcast „Attentat am Blumenstand“ des „Kölner Stadt-Anzeiger“ erzählt. Eigentlich will sie sich nicht mit S. treffen. Der interessiere sie nicht, sagt Reker, was aber nicht bedeute, dass ein Treffen völlig ausgeschlossen sei. „Interessiert mich nicht, heißt weder: Ich lehne ihn ab, noch: Ich wende mich ihm zu. Er interessiert mich einfach gar nicht.“ Anfangs, kurz nach dem Attentat, sei das anders gewesen. „Anfangs habe ich gesagt, ich will nichts mit ihm zu tun haben.“ Ob sie ihm verziehen habe? „Mir wird man nicht unterstellen, dass ich so versöhnlich sein muss wie ein Papst, der angegriffen wurde.“ Das Attentat habe sie verarbeiten können, weil sie letztlich nicht Opfer geworden sei. „Er hat sein Ziel nicht erreicht, sondern ich habe überlebt.“

Henriette Reker spricht am 29.4.2016 vor einem Verhandlungssaal des Oberlandesgerichts in Düsseldorf mit Journalisten.
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Richterin Barbara Havliza, die Frank S. verurteilte, ist heute Opferschutzbeauftragte des Landes NRW. Frank S. habe mit dem Attentat „ein Signal gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung setzen“ wollen, sagte Havliza 2016 im Prozess. „Er wollte ein Klima der Angst schaffen und die Politik beeinflussen.“ Doch statt eines politisch fanatisierten Attentäters sah das Gericht in dem Angeklagten eher einen sozial isolierten, einsamen Menschen, der sich im Internet radikalisierte – und den nicht niedrige Beweggründe trieben, weil er ja nicht im eigenen, sondern im „vermeintlichen Allgemeininteresse“ gehandelt habe, hieß es in der Urteilsbegründung. Niedrige Beweggründe gelten als Mordmerkmal, eine lebenslange Haftstrafe blieb ihm somit erspart.

Der Angeklagte Frank S. sitzt am 15.04.2016 in Düsseldorf im Prozess vor dem Oberlandesgericht.
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An Rekers Zeugenauftritt vor Gericht erinnert sich Havliza voller Respekt. Sie sei eine „außergewöhnliche Zeugin“ gewesen. „Er wollte sich doch auch noch bei Ihnen entschuldigen“, sagte Havliza in einem Doppel-Interview mit Reker im „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Aber Sie haben darauf sehr kühl und wunderbar reagiert und gesagt, das wollten sie jetzt mal hier in diesem Saal so nicht annehmen. Fertig, Situation durch.“
Beleidigungen und Drohungen gegen Kommunalpolitiker werden mehr
Nachhaltig schwer beeindruckt von dem Attentat wurde Martin Bachmann. Er schlug damals mit einem Sonnensegel auf Frank S. ein, brüllte, er solle die Waffe fallen lassen und hielt den Attentäter in Schach, bis ein privat anwesender Bundespolizist ihn überwältigte. „Ich habe das Trauma immer noch“, sagte Bachmann voriges Jahr dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er begab sich in psychologische Behandlung, ließ sich zweimal stationär in einer Klinik aufnehmen. „Wenn ich abends ins Bett gehe, dann sehe ich dieses blutige Messer. Ich habe fast meinen Verstand verloren, weil ich nicht schlafen konnte.“
Singulär blieb der politisch motivierte Angriff auf Politiker gleichwohl nicht. Knapp vier Jahre später, am 1. Juni 2019, ermordete der Rechtsextremist Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Wohnhaus. Per Post, im Internet und auf Social Media werden Bürgermeister, Land- und ehrenamtliche Stadträte zunehmend beschimpft, beleidigt und bedroht. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung von 2022 sind 60 Prozent der Kommunalpolitiker in Großstädten betroffen. Jeder Dritte hat schon tätliche Angriffe erlebt. Ein Großteil der Aggressionen und Anfeindungen kommt aus dem rechtsextremen Spektrum.
Viele Opfer kritisieren, dass Strafanzeigen verhallen. Folgen für die Täter gibt es selten. Die Studie bemängelt fehlende Sensibilität für politisch motivierte Gewalt bei den Strafverfolgungsbehörden: Es brauche eine konsequentere gerichtliche Ahndung der Straftaten.
Eine privat anwesende Notärztin hatte Henriette Reker nach dem Attentat auf dem Wochenmarkt Erste Hilfe geleistet. Reker überlebte dank einer Notoperation in der Uniklinik. Tags darauf gewann sie die Oberbürgermeisterwahl, da lag sie noch im künstlichen Koma. Einen Monat später dann ihr erster offizieller Termin im Historischen Rathaus: die Verleihung des Heinrich-Böll-Preises an die deutsche Schriftstellerin Herta Müller. Reker schätzt die Nobelpreisträgerin außerordentlich. Dieser Termin sei immer die Ziellinie ihrer Genesung gewesen, sagt sie.
Bei ihrer Ansprache trug Reker ein buntes Tuch, um die Narbe am Hals zu verdecken. Müller sprach den Satz, wonach erst Parolen und dann die Messer spazieren gehen. Reker hat ihn seitdem immer wieder zitiert: „Weil ich glaube, dass der genau stimmt.“