Kölner Premiere der Gounod-OperFaust auf der Intensivstation

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Faust Kölner Oper

Szene mit Anne-Catherine Gillet und Young Woo Kim

Köln – Befinden wir uns vielleicht auf einer Covid-Intensivstation? Wenn in diesen Tagen ein Opernabend mit dem Blick auf ein EKG beginnt, das zu Beginn eine „normale“ Sinuskurve“ zeigt, die sich dann zur – tödlichen – Nulllinie einebnet, dann mögen sich solche Assoziationen schon einstellen. Es bleibt aber bei solchen Anmutungen, Johannes Eraths Kölner Inszenierung von Gounods „Faust“, die jetzt im letzten Augenblick von einer geplanten Streaming-Produktion auf die Live-Premiere mit Präsenzpublikum (schüttere 200 Zuschauer im Staatenhaus I )um gestellt werden konnte, verzichtet zum Glück auf Aktualität mit dem Holzhammer – seine Liebestragödie wird kein Corona-Spektakel.

Was macht die Regie stattdessen? Besagte Nulllinie erscheint just in dem Augenblick, da – während der Ouvertüre – Valentins berühmte Abschieds-Cavatine aus dem ersten Akt aufklingt. Weil die in der hier realisierten Frühfassung der Oper fehlt, wird die Musik frei für eine Umbesetzung: Sie wird zur Lebensabschiedsmelodie. Eraths Faust, der zum EKG hinfällig im Rollstuhl sitzt, ist kein aktiver Selbstmörder, sondern jemand, der von einer Krankheit zum Tode befallen ist. Im Moment des Sterbens zieht noch einmal – eine häufig berichtete Nahtoderfahrung – sein Leben mitsamt der verpassten Gelegenheiten an ihm vorüber. Und diese Erinnerung ist hier nichts anderes als die Handlung der Oper, die darob anhebt – mit einer den jungen Faust verkörpernden Zweitbesetzung der Titelpartie.

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Zweifellos ein origineller Zugang. Dass er wirklich funktioniert, darf allerdings bezweifelt werden. Gounods Faust taucht ja nicht in einen Erinnerungsraum ein, sondern erhält – in diesem Fall wie bei Goethe – dank Mephistos Verjüngungszauber die Gelegenheit, als alter Mann und mit dessen Wissen die erotischen Erfahrungen der Jugend zu machen. Die versäumte Vergangenheit wird in die Gegenwart „umgeklappt“.

Das Werk lässt indes nicht ungerächt, dass Eraths Idee der ihm eingeschriebenen Konstellation in die Quere kommt – mag der Zuschauer jene auch zwischendurch vergessen: Wenn der alte Faust am Ende, nach dem sakralkitschig aufgipfelnden Finale, mit seinem „Rien“ auf den Lippen tatsächlich stirbt, dann wirkt das nicht nur überraschend, sondern vielmehr unorganisch, angehängt, aufgesetzt.

Eine überbordende Fülle an Einfällen

Diese Kritik sei indes zurückhaltend formuliert, denn Erath gleicht das konzeptuelle Defizit mit überbordend-suggestiven und die breite Bühne mühelos füllenden Bild- und Szeneeinfällen aus. Gelegentlich überfordern die den Zuschauer fast schon wieder – und drohen im ersten und dritten Akt sogar revuehaft zu zerfasern. Auf einer Bühne (Herbert Murauer), die mit Hilfe gestaffelter schwarzer Rahmen in mehrere Raumzonen gegliedert wird (in deren erster sitzt das Orchester), begibt sich ein durch exquisite Lichtregie (Nico Hungsberg) noch zusätzlich intensiviertes surreales Traumspiel. In ihm geraten Identitäten und (zumal mit Hilfe eines beweglich eingesetzten Kameraauges) auch Realitätsebenen verwirrend-faszinierend ins Rutschen.

So arbeitet Erath nahezu durchgehend mit Doppelgängern. In der Choreografie führt das immer wieder zu symmetrischen Tableaus – der/die eine wird zur Projektion des/der anderen. Nicht nur Faust erscheint zweifach, sondern auch Marguerite und – gleich am Anfang – sogar Mephisto (der als lässig rauchender Lebemann eingeführt wird, aber als Charakter merkwürdig unspezifisch bleibt). Der zweite Mephisto ist kein anderer als François-Xavier Roth am Orchesterpult – er spricht in den Dialogen die Mephisto-Partie (was auch daran liegen könnte, dass Youn mit gesprochenem Französisch überfordert ist). Paare bilden dank identischer Kostümierung auch Wagner und Siébel, Valentin und Marguerite.

Traumwelt mit Motiven des Sterbens und des Todes

Darin an Boschs Totentänze erinnernd, ist diese Traumwelt mit Motiven des Sterbens und des Todes durchsetzt: Ein Sarg, Totenköpfe, Rollstühle gehören zum Dauerinventar, und – im dritten Akt – ein Hospital mit Totenbetten, aus denen sich die Akteure dann zombiehaft erheben. Der „Gloire“ der Kriegsheimkehrer kann Erath nichts abgewinnen, gegen Gounods heroischen Marschton beharrt er darauf, dass auch der Krieg katastrophal verpasstes Leben ist.

Wenn sein „Faust“ Corona auch nicht explizit zum Thema macht, so ist er doch ein „Faust“ unter Corona-Bedingungen. Kaum leugnen lässt sich, dass die Abstandsregeln auch zu Einbußen führen. Trotz aller Farbenpracht und Geschehnisdichte wirkt die Szene mitunter merkwürdig entkörperlicht: Das große Liebesduett Faust – Marguerite gerät zum unambitionierten Matratzenlager, und die Duellszene mit Valentins Tod entbehrt des eigentlich unabdingbaren Handlungsmoments.

Das fällt auch deshalb auf, weil das Gürzenich-Orchester unter Roth wunderbar präsent spielt (einmal fiel eine Violine in die Generalpause, just in dem jüngst wiederentdeckten und hier erstmals präsentierten zweiten Teil von Fausts großer Arie „Salut! Demeure chaste et pure“), in der Phrasierung hoch musikalisch agiert und eine berückende instrumentale Leuchtkraft entfaltet. Ein Manko – natürlich –, dass der Chor links im Off platziert ist. Da sind in der Koordination Reibungsverluste nicht zu vermeiden.

Gesungen wird ausgezeichnet

Gesungen wird durch die Bank ausgezeichnet. Die Palme gebührt indes Anne-Catherine Gillet als Marguerite – keine Diva wie dereinst etwa Joan Sutherland, sondern ein junger, fokussierter, manierenfreier, im Appeal mädchenhafter Sopran, der dennoch mit strömender Kraft mühelos Höhen und Räume füllt. Auch Young Woo Kim als junger Faust ist kein Stentor von ehedem, wartet vielmehr mit tenoraler Noblesse, natürlichem Schmelz und klug differenzierender Klangfülle auf. Diesem Stil schließt sich der Mephisto Samuel Youns an – diesmal ein schlanker, agiler Bass, der sich ebenfalls nicht fest singt und dessen grandseigneuraler Ausstrahlung allenfalls ein paar schwarze Farben fehlen. Gut sind auch die Nebenrollen besetzt – mit Alexander Fedin als alter Faust, Miljenko Turk als Valentin, Regina Richter als Siébel, Lucas Singer als Wagner und Judith Thielsen als Marthe. Dankbar-schütterer Schlussbeifall für alle Beteiligten. Ihm war auch die Erleichterung darüber anzuhören, dass Opernaufführungen überhaupt wieder möglich sind.

Stückbrief

Musikalische Leitung: François-Xavier Roth Inszenierung: Johannes Erath Bühne und Kostüme: Herbert Murauer Licht: Nicol Hungsberg Darsteller: Alexander Fedin, Young Woo Kim, Samuel Youn, Anne-Catherine Gillet, Miljenko Turk, Regina Richter, Lucas Singer, Judith Thielsen Dauer: 3 Stunden, 20 Minuten (inklusive Pause) Weitere Aufführungen: 8., 12., 17., 24. , 26. Juni

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