Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Kommunalwahl NRWAfD im Ruhrgebiet – Die Angst vor dem blauen Revier

7 min
ARCHIV - 24.02.2025, Nordrhein-Westfalen, Gelsenkirchen: Ein Wahlplakat der AfD vor einem Straßenschild mit der Aufschrift «Schalke» in Gelsenkirchen. (zu dpa: «Zuwachs für AfD in NRW erwartet - Rechtsruck im Revier?») Foto: Christoph Reichwein/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wahlplakat der AfD in Gelsenkirchen (Archivbild)

In Städten wie Gelsenkirchen will die AfD beweisen, dass sie auch im Westen die etablierten Parteien vor sich hertreiben kann.

An die rote Laterne haben sie sich in Gelsenkirchen längst gewöhnt. Jetzt vor der Kommunal- und Oberbürgermeisterwahl am Sonntag stehen die Negativrekorde wieder überall: höchste Arbeitslosenquote, höchste Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit, höchste Verschuldung, höchste Zahl der Armutszuwanderung, meiste Schrottimmobilien. Kirsten Lipka aber sitzt an einem lauen Mittwochabend vor der „Trinkhalle am Flöz” an der Bochumer Straße, mit einem Bierglas in der Hand und sagt: „Ich konzentriere mich auf die guten Sachen.“ Die schreibt sie in ihren Blog mit dem Titel „Gelsenmylove”.

Gegenüber der „Trinkhalle am Flöz“, die deutlich hipper ist als ihr bodenständiger Name, leuchtet ein riesiges Wandgemälde über einem Gemeinschaftsgarten. Früher stand hier eine der vielen Schrottimmobilien, die Gelsenkirchens Ruf mit ruiniert haben. Nun wird die Gegend zum „Kreativquartier“ aufgewertet.

Das rote Revier wird immer blauer

An der gedämpften Grundstimmung hat das wenig geändert. Und jetzt, zur Kommunalwahl am Sonntag, kommt eine neue Herausforderung hinzu. Ihr Blog sei eigentlich nicht politisch, sagt Kirsten. „Aber ich möchte schon, dass viele ihr Kreuz nicht bei der AfD machen. Und dass sie ihren Mut nicht verlieren.“

Alles zum Thema Hendrik Wüst

Denn die rote Laterne Gelsenkirchen, fast immer SPD-regiert, nimmt dramatisch blaue Züge an. 24,7 Prozent wählten die AfD bei der Bundestagswahl im Februar, das reichte, um stärkste Kraft bei den Zweitstimmen zu werden.

Ein biederer Großvater-Typ für die AfD

„Die Arbeiterschaft kommt zu uns“, behauptet Bernd Baumann im fernen Berlin. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion setzt ebenso wie seine Chefs Alice Weidel und Tino Chrupalla große Hoffnungen in die Kommunalwahl. Das Hauptziel: Die SPD in ihren früheren Hochburgen zu demütigen.

In Gelsenkirchen soll Norbert Emmerich diesen Job erledigen. An diesem Tag steht der 72-jährige Finanzberater am anderen Ende der Stadt, im kleinbürgerlichen Viertel Resse. Korrekt gestutzter eisgrauer Schnurrbart, leicht ungebändigtes eisgraues Haupthaar, verbindliche Sprache, die aber schnell ins Kompromisslose kippt: Emmerich soll mit seiner großväterlichen Ausstrahlung gerade bei der älteren Generation punkten, die sich mit der AfD noch schwer tut.

„SOS“ nennt er sein Programm, „Sauberkeit, Ordnung, Sicherheit”. Er fordert Videoüberwachung gegen Müllsünder und „zwei bis drei Polizisten pro Viertel, die wie früher Streife laufen“.

Auch die SPD hat an Schärfe zugelegt

Emmerich wirkt wie die personifizierte Biederkeit. Das liegt an zweierlei: an einer doppelten Strategie der AfD – und an der Schärfe der anderen. In Gelsenkirchen wie auch in Duisburg versucht inzwischen die SPD-Stadtspitze, gegen die Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien vorzugehen. „Die Sozialsysteme werden systematisch ausgenutzt, das Bürgergeld landet in den Taschen von Clan-Oberen“, beklagte die scheidende SPD-Oberbürgermeisterin Karin Welge.

Sozialdezernentin Andrea Henze, die jetzt für die Sozialdemokraten kandidiert, geht mit einem „Aufstiegsplan” ins Rennen und spricht ebenfalls viel über Müll und Sicherheit. Und Duisburgs SPD-Stadtchef Sören Link, der sich am Sonntag als Favorit zur Wiederwahl stellt, beklagte kürzlich ein „Geschäftsmodell” von Scheinarbeitsverhältnissen und Vermietungen von Schrottimmobilien zu überhöhten Preisen und forderte von der Bundesregierung schnelle Verbesserungen beim Kampf gegen Sozialbetrug. In Gelsenkirchen zählt selbst der Linken-Kandidat die Armutszuwanderung neben der Verschuldung als Hauptproblem auf.

Die AfD reagiert auf zwei scheinbar gegensätzliche Arten: Kandidaten wie Emmerich treten bürgerlich auf – und andere, wie Enxhi Seli-Zacharias, betonen die schrille Seite. Die Schrillen, nicht die Biederen sind es, die im heftig zerstrittenen Landesverband auf mehr Einfluss drängen. Seli-Zacharias, geboren im albanischen Tirana, aufgewachsen in Gelsenkirchen, ist 31, Stadträtin in Gelsenkirchen, sitzt im Landtag und steht erst am Anfang ihrer politischen Karriere. Das AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes zählt mehrere hart islamfeindliche Aussagen von ihr auf.

Sie lotst den Reporter ein paar Häuser weiter zu einem Kinder- und Jugendclub der sozialistischen „Falken“. Ein großes Transparent hängt im Fenster: „Mit der AfD gehen hier die Lichter aus“. Seli-Zacharias baut sich davor auf. „Da gehen wir jetzt rein“, kündigt sie an. Drinnen sitzt eine Betreuerin, die mit Hinweis auf die Kinder die AfD-Politikerin wieder herauskomplimentiert. Später veröffentlicht Seli-Zacharias ein Video, in dem sie anprangert, dass die Falken für ihre Jugendarbeit städtische Gelder erhalten.

In Berlin dämpft die AfD schon die Erwartungen

In Gelsenkirchen peilt AfD-Kandidat Emmerich mindestens die Stichwahl an. Dann müssten sich die anderen gegen ihn verbünden, wie im Osten inzwischen gang und gäbe. Auch damit wäre die AfD aufgewertet. „Ob wir einen Bürgermeister kriegen oder nicht, ist nicht das Entscheidende“, dämpft Bernd Baumann in Berlin die Erwartungen. Ziel sei, „dass die SPD weiter einbricht“.

Angesichts der Lage zeigen sich die Sozialdemokraten fast schon verblüffend optimistisch: „Die Stimmung ist so engagiert und leidenschaftlich wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, sagt Landeschef Achim Post dem RND. Er sei zuversichtlich, dass seine Partei die Oberbürgermeister- und Bürgermeisterposten in ihren Hochburgen werde halten können. Wenn unter anderem Gelsenkirchen und Duisburg weiter rot blieben, wäre das schon ein Erfolg.

Erstaunlich gute Laune bei der SPD

Und die SPD hofft auch darauf, nach zehn Jahren Pause den Oberbürgermeistersessel in Köln wieder zu besetzen, der einzigen Millionenstadt des Bundeslandes. „Wir wollen wieder stark werden“, so sagt es SPD-Chef Lars Klingbeil bei einem Wahlkampfauftritt in einer eng besetzten Kölner Kneipe. Hier trifft sich an diesem Abend ein gut gelaunter SPD-Ortsverein.

Nach Klingbeils Ankunft haben die Gäste beschwingt ein kurzes Lied angestimmt. Klingbeil sagt: „Auf die NRW-SPD kommt es an.“ Nur die SPD könne schließlich richtig gute Industriepolitik machen und damit Arbeitsplätze sichern. „Bravo“, rufen die Gäste, als er eine höhere Erbschaftssteuer als Gerechtigkeitsfrage bezeichnet.

Finanzen sind fast immer ein Thema bei diesen Auftritten. Oft geht es um marode Sportplätze und Schwimmbäder, auch in der Kölner Kneipe. Wenige Tage später – eine Woche vor der Kommunalwahl – beschließt die Koalition, eine Milliarde Euro Direkt-Unterstützung für die Sanierung von Sportstätten in den Kommunen locker zu machen.

Wir dürfen nicht nur eine Angstdebatte führen
Lars Klingbeil

Und noch ein Thema spricht Klingbeil bei seinen Wahlkampfauftritten an: die Migrationspolitik. Es gelte, die vielen positiven Migrationsgeschichten in den Vordergrund zu schieben. „Wir dürfen nicht nur eine Angstdebatte führen.“ Es ist auch eine Art, auf die AfD zu reagieren. „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Land schlechtgeredet wird“, das sagt Klingbeil auch. Zum Abschluss feuert ein Landtagskandidat die Gäste zu Sprechchören an, wie ein Trainer seine Sportler. Es funktioniert ganz gut.

Natürlich schaut auch die Union im Bund mit gewissem Bangen auf diese erste Wahl nach dem Regierungsantritt von Schwarz-Rot. Einen Politikwechsel bis zum Sommer hatte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) versprochen, stattdessen lieferte die Koalition mit der gescheiterten Richterwahl Negativschlagzeilen.

Merz und Wüst sind sich immer noch nicht grün

Ob sie die Wahl an diesem Sonntag auch als ersten Stimmungstest für die Bundesregierung betrachten, werden Merz und Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bei ihrem gemeinsamen Auftritt im Friedenssaal im historischen Rathaus von Münster gefragt. Ihr Verhältnis war zwar schon schlechter als heute, aber glänzend ist es immer noch nicht.

Wüst sagt offen, in Kommunalwahlen fließe „immer auch der bundespolitische Trend, der landespolitische Trend“ ein. „Da müssen wir Ihnen auch kein X für ein U vormachen.“ Merz antwortet dagegen schmallippig: „In erster Linie sind es Kommunalwahlen.“ Bundes- und Landespolitik hätten nur begrenzten Einfluss auf die Ergebnisse.

Der Führungsriege – sowohl in der Partei als auch in der Unionsfraktion im Bundestag und in der Jungen Union – ist jedoch klar, dass diese Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Schwung oder Bremse für Schwarz-Rot im Bund vor ihrem „Herbst der Reformen“ bedeuten wird. Auch deshalb, weil eine ganze Reihe des Spitzenpersonals aus NRW kommt: neben Merz Digitalminister Karsten Wildberger, Unionsfraktionschef Jens Spahn, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann.

CDU wünscht der SPD keinen Misserfolg

Die Christdemokraten treibt aber noch etwas um. „Je schlechter die Sozialdemokraten, desto besser für die Union, ist eine Rechnung von gestern“, sagt einer aus der CDU-Spitze. Im Bund müsse man der SPD wünschen, wieder auf 20 Prozent zu kommen, damit die Union mit ihr auch künftig eine Regierung der demokratischen Mitte bilden könne.

Die Hoffnung auf die neue SPD-Chefin Bärbel Bas, deren Heimat im Wahlkreis Duisburg liegt und die doch den Aufstieg aus „kleinen Verhältnissen“ nach ganz oben verkörpere, sei noch nicht aufgegangen, sagen führende Unionsvertreter. Und noch etwas: Die SPD nehme ihre Juniorrolle in der Regierung nicht an und vergraule mit ihrer Schulden- und Steuerpolitik Unionsanhänger, die sich fragten, warum sie dem konservativen Merz dann folgen sollten, wenn nicht einmal er den Laden in den Griff bekomme. Das könne sich in seinem Heimatland jetzt schon bemerkbar machen.

Wüst wiederum greift medienwirksam auch notleidenden Städten wie Gelsenkirchen unter die Arme: Ende August ließ er sich dort vorführen, wie dort mit Förderung aus Landesmitteln weitere Schrottimmobilien abgerissen wurden.

Das ganz in Blau gehaltene Wandbild gegenüber der „Trinkhalle am Flöz“ in Gelsenkirchen zeigt den Kopf einer jungen Frau, die skeptisch auf die raue Bochumer Straße blickt. Darunter steht mit verschränkten Armen Kirsten, die ihre Liebe zu dieser Stadt in ihren Blog schreibt. Sie sagt skeptisch zum Abschied: „Es ist mühevoll, immer dagegen zu halten. Und es ist mühevoll, Gelsenkirchen gut zu finden.“