„Wir müssen wieder Krise üben“NRW-Verkehrsminister Wüst im Interview

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NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU)

Herr Wüst, wo steht das Land NRW drei Wochen nach der Flutkatastrophe mit der Reparatur der Infrastruktur?

Hendrik Wüst: Allein unsere Kolleginnen und Kollegen von Straßen.NRW haben mehr als 80 Aufträge vergeben. 38 Schäden wurden bereits behoben. Es wurde geregelt, dass der Wiederaufbau beschädigter Bundes- und Landesstraßen unbürokratisch erfolgen kann, selbst wenn das Baurecht heute andere Standards vorschreibt. Angesichts der großen Zerstörung wird es trotz aller Anstrengung gerade bei der Schiene dauern, bis die Infrastruktur überall wieder vollständig hergestellt ist.

Wie groß ist die Gefahr von Folgeschäden?

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Insbesondere Landesstraßen sind oft in Hanglagen gebaut. Es rutschen immer noch einzelne Hänge nach, und unsichtbare Unterspülungen sind ein Problem. Um hier die Verkehrssicherheit zu garantieren, werden gefährdete Straßenabschnitte derzeit mit Kernbohrungen und anderen Techniken überprüft.

Wie hoch ist die Schadenssumme in Nordrhein-Westfalen?

Für die Straßen in der Zuständigkeit des Landes beläuft sie sich nach letztem Stand auf 120 Millionen Euro. Am Mittwoch haben wir rund 270 Millionen Euro für Schäden an der ÖPNV-Infrastruktur und Folgekosten angemeldet.

Woher kommt das Geld für die Reparaturen?

Ich denke, das wird ohne Nachtragshaushalt nicht gehen.

Und wie lange wird es dauern?

Alle arbeiten mit großem Einsatz daran, Straßen und Schienen wieder in die Gänge zu bekommen. Viele Schäden werden bis Jahresende repariert sein können. Die allermeisten kleineren Schäden werden in den kommenden Wochen behoben sein. Auf der Schiene sind die Schäden teilweise deutlich größer und die Reparaturarbeiten komplexer. Das wird mindestens bis nächstes Jahr dauern.

Und dann? Was lernen wir aus dieser Katastrophe?

Wer darauf schon heute letzte Antworten hat, ist ein Scharlatan. Aber verantwortungsvolle Politik muss auch aus diesen Ereignissen Konsequenzen ziehen. Wenn ich etwa sehe, dass ein ehedem kleiner Gewässerdurchlass von fünf Metern Durchmesser eine ganze Brücke weggerissen hat, dann heißt das: Wir müssen dem Wasser künftig mehr Raum geben, ihm weniger Angriffsflächen bieten.

Das bedeutet?

Breitere Durchlässe, Brücken mit größerer Spannweite, verstärkte Sicherung von Hängen und so weiter …

Mit welchem Risikofaktor wollen Sie denn planen? Auf einen Pegel, der um mehrere Meter über dem der Jahrhundertflut von 1910 lag, war an der Ahr niemand eingestellt.

Beim Neubau einer Straße, einer Brücke oder eines Schienenstrangs ist es sicher nötig, andere Worst-Case-Szenarien zu bedenken. Wenn das vom Beginn der Planung an mitgedacht wird, werden sich etwaige Mehrkosten im Rahmen halten.

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Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) im Gespräch mit Chefredakteur Carsten Fiedler und Joachim Frank (von links) sowie Ministeriumssprecher Christian Voss (2.v.r.)

Muss man – anders als Armin Laschet es gesagt hat – vielleicht doch die Politik ändern, „weil jetzt so ein Tag ist“?

Wir haben als Regierung die Verantwortung übernommen, unseren Kindern ein klimaneutrales Land zu hinterlassen, das zugleich gute Arbeit und soziale Sicherheit garantiert. Klimaschutz und Wohlstand müssen zusammengehen. Sonst macht es uns auf der ganzen Welt ja auch keiner nach. Wenn uns aber niemand folgt, ist das Vorangehen ein sinnloser Alleingang. CO2-Neutralität herstellen, die Dekarbonisierung vollenden und gleichzeitig Industrieland bleiben – diese Transformation des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist unsere Aufgabe. Um diesen Kern der Diskussion geht es viel zu selten.

Markus Söder hat für Bayern und gegen Armin Laschet die Ziellinie für die CO2-Neutralität vom Jahr 2045 auf 2040 vorgezogen.

Das Remake des Theaters „Strauß gegen Kohl“, das wir aus Bayern da gerade geboten kriegen, wirkt etwas bemüht. Die Zeiten haben sich seit den 1970er Jahren geändert, und in der Gegenwart haben wir keine Belehrungen aus Bayern nötig. Nordrhein-Westfalen muss sich nicht verstecken. Nehmen wir nur die Zahl der Windräder. Wir haben 3804 Windräder, Stand Anfang 2021. Bayern hat 1247. Wir haben den Ausbau auch besser hinbekommen als das grün geführte Baden-Württemberg. Bis zur CO2-Neutralität gibt es in allen Ländern noch viel zu tun. Von der Diskussion über Jahreszahlen wird das Klima jedenfalls nicht besser.

Wenn Sie ins Kinderbett Ihrer fünf Monate alten Tochter schauen, verschärft das für Sie die Frage, welche Welt wir der kommenden Generation hinterlassen?

Dass meine Tochter eine durchschnittliche Lebenserwartung von über 80 Jahren hat, macht noch bewusster, dass es um einen weiteren Zeithorizont geht als nur bis zur nächsten Wahl. Aus einem Schock wie der Juli-Flut und der emotionalen Angefasstheit, die ich mit vielen Menschen teile, müssen wir einen positiven Schub entwickeln, der die Menschen auch dann noch mitnimmt, wenn der Wandel konkret wird.

Wie konkret?

Wir können die viel diskutierten Inlandsflüge zwischen dem Rheinland und Berlin durch schnelle Bahnverbindungen überflüssig machen. Die ICE-Ausbaustrecke Bielefeld-Hannover sorgt für eine zum Flugzeug konkurrenzfähige Verbindung Köln-Berlin. In Ostwestfalen aber findet diese Planung keineswegs nur Zustimmung. Genauso gibt es Widerstände gegen den Bau eines dritten Gleises auf der Bahnstrecke von Nordrhein-Westfalen nach Rotterdam, das mehr Güter auf die Schiene bringen soll. Die Wiederstände gegen den Ausbau von Gleisen sind nicht kleiner als gegen einen Straßenbau. Genau da liegt für mich der springende Punkt künftiger Verkehrspolitik: Menschen verändern ihre Mobilität, wenn wir ihnen ein besseres Angebot machen. Dafür müssen wir die Infrastruktur modernisieren und ausbauen und nicht zuallererst Verbotsschilder aufstellen. Moderne Verkehrspolitik ist der beste Klimaschutz.

Wird es ohne Verbote gehen?

Angebote machen Verbote überflüssig. Davon bin ich fest überzeugt. Und mein Menschenbild sieht nicht vor, anderen mit Verbotsorgien vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Das gilt zum Beispiel auch für die Förderung des innerstädtischen Radverkehrs. Die „Volksinitiative Aufbruch Fahrrad“, deren Forderung das Land aufgegriffen hat, hat das genau verstanden: Das ist Politik fürs Fahrrad und nicht gegen das Auto.

Aber Sie müssen die Autos aus den Städten raushalten. Wie wollen Sie das erreichen ohne…

… Verbote? Die Leute wollen doch mehr Rad fahren! Aber dafür brauchen sie ordentliche Radwege. Die bereitzustellen, ist Aufgabe der Politik in Stadt und Land. Erfolgreiche Kommunen wie Kopenhagen haben es genau so gemacht: Sie haben schnelle Trassen für das Rad geschaffen und waren am Ende selbst überrascht, wie gut die angenommen wurden. In Nordrhein-Westfalen stehen in diesem Jahr mehr als 100 Millionen Euro für besseren Rad- und Fußverkehr zur Verfügung. Jetzt brauchen wir fertige Planungen.

Knapp zwei Monate vor der Bundestagswahl, Herr Wüst, sagen die meisten Deutschen, sie wollten keinen der drei Bewerber um das Kanzleramt. Armin Laschet hat von allen dreien den schlechtesten Zustimmungswert. Woran fehlt es dem Unionskanzlerkandidaten?

Die großen Kanzler Helmut Kohl und Angela Merkel hatten bei ihrer ersten Wahl nicht annähernd die Beliebtheitswerte wie auf der Höhe ihrer jeweils 16-jährigen Kanzlerschaft. Mit dem Amt lädt sich die Zustimmung auf. Deswegen ist jede Umfrage davor nur eine Momentaufnahme. Stattdessen sage ich: Zurück zur Sache! Armin Laschet hat eine klare Linie und steht dazu. Wenn die großen Themen wieder in den Mittelpunkt rücken, dann werden Armin Laschet und die CDU/CSU auch wieder deutlich besser dastehen.

„Zur Sache!“ könnte auch ein Ruf aus der Grünen-Parteizentrale sein, wo sich Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zuletzt mit allerlei Problemen eher persönlicher Art herumschlagen musste.

Die Banalisierung der Politik durch Twitter und Co., die nur von einem Bruchteil der Bevölkerung genutzt werden, tut uns allen nicht gut. Und es macht mich unruhig, dass wir über inszenierte Aufregungen diskutieren, statt uns der Tatsache zu stellen, dass unsere Art zu leben auf vielerlei Weise bedroht ist.

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Nämlich?

Wir müssen wieder Krise üben, auf allen Ebenen des Staates. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 und dem Ende des Ostblocks haben wir die „Friedensdividende“ eingestrichen, ohne mögliche neue Bedrohungen genug ins Kalkül zu ziehen. Seit mehr als einem Jahr erleben wir eine Pandemie ungeahnter Dimension. Wir haben jetzt die Flutkatastrophe gesehen. Wir alle sind dankbar, beeindruckt und angerührt von der spontanen Hilfsbereitschaft der Freiwilligen in den Flutgebieten. Darüber sollten wir aber nicht eine kritische Analyse vergessen, warum es an der einen oder anderen Stelle sehr lange gedauert hat, bis die Hilfe des Staates ansprang. Da müssen wir ansetzen. Und wir müssen uns fragen: Was könnte die nächste große Krise sein? Ein flächendeckender Stromausfall? Ein Zusammenbruch des Internets? Eine terroristische Cyber-Attacke? Wir alle müssen wieder Krise üben und vorbereitet sein.

Und wie?

Merkmal einer jeden Krise ist Ressourcenmangel. Das, was man am dringendsten braucht, ist immer gerade nicht da. Am Anfang der Corona-Krise waren es die Masken. In den Flutgebieten waren es Bagger und Muldenkipper. Der Staat muss zwar keine Vorratswirtschaft für sämtliche Eventualitäten betreiben. Aber er muss im Krisenfall schneller reagieren, das heißt ganz konkret: Er muss schnell beschaffen können. Ich halte deshalb einen dauerhaften bundesweiten Krisenfonds für richtig, aus dem schnell das Nötigste besorgt werden kann. Auf das Geld in diesem Fonds hätte die Regierung – von mir aus gerne – mit Zustimmung des Parlaments ad hoc Zugriff, ohne langwierige Vergabeverfahren. So wären wir schneller als mit geltendem Vergaberecht.

Wieviel Geld müsste in so einem Fonds sein?

Mit einem Grundstock von einigen Hundert Millionen Euro für die erste Handlungsfähigkeit käme man in Nordrhein-Westfalen schon sehr weit.

Wie finden Sie es eigentlich, dass Ihr NRW-Parteifreund Wolfgang Bosbach Wahlkampf mit Hans-Georg Maaßen macht?

Ich würde keinen Wahlkampf für Maaßen machen, weil ich nicht glaube, dass seine Kandidatur der CDU hilft.

Sie halten nichts von der These, dass die CDU mit einem wie Maaßen den Wählern am rechten Rand ein Alternativ-Angebot zur „Alternative für Deutschland“ machen kann?

Die CDU ist die Volkspartei der Mitte. Unser Kompass ist das christliche Menschenbild. Wir sind immer auch Heimat für Wertkonservative. Aber die AfD ist nicht konservativ. Konservative wollen einen handlungsfähigen Staat. Die AfD will diesen Staat zersetzen und seine Institutionen lächerlich machen.

Diese Frage spielt in diesen Wochen keine Rolle. Ob Sie’s glauben oder nicht.

Wir glauben‘s nicht.

Die Pandemiebekämpfung, die Bewältigung der Hochwasserfolgen und der Bundestagswahlkampf sind die Dinge, auf die wir uns jetzt konzentrieren. Und als CDU in Nordrhein-Westfalen kämpfen wir dafür, dass Deutschland auch in Zukunft gut regiert wird. Deshalb muss Armin Laschet Bundeskanzler werden. Alles Weitere kommt später.

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NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU)

Aber Sie machen den Eindruck, dass Sie Ambitionen haben.

Ich werbe sehr dafür, dass wir die Nachfolge sowohl im Landesvorsitz als auch im Amt des Regierungschefs in Geschlossenheit und Einigkeit klären und nächstes Jahr zur Landtagswahl mit einem starken Team antreten.

Als Laschet klargemacht hat, dass er nach Berlin geht, wurde Ihnen der Vorwurf gemacht: Ah, jetzt bringt er sich in Stellung, und er ist der einzige mit einem Mandat, der es sinnvollerweise werden kann. Alle anderen haben kein Landtagsmandat. Also: Jetzt ist die Stunde des ehrgeizigen Herrn Wüst.

Es gibt viele gute Leute in der CDU. Entscheidend ist, dass das Land auch in Zukunft mit Maß und Mitte zu einem klimaneutralen Industrieland wird.

Sie sind ein Vertreter des Wirtschaftsflügels in der CDU. Welches Angebot hätten sie dem sozialen Lager Ihrer Partei zu machen?

Ich bin seit Anfang der 1990er Jahre Mitglied der CDU Nordrhein-Westfalen. Immer waren wir Garant für das Gewicht der sozialen Fragen und der Anliegen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch in der Bundes-CDU. Und bei den großen Themen wie dem Klimaschutz verlaufen die Konfliktlinien längst nicht mehr zwischen Wirtschafts- und Arbeitnehmerflügel. Da sind wir sehr nahe beieinander. Das gilt auch für das persönliche Verhältnis zwischen Karl-Josef Laumann, dem CDA-Landesvorsitzenden Dennis Radtke und mir.

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